Montag, 12. Mai 2014

Das Museum Wäschefabrik in Bielefeld


Beim Nähbloggertreffen vor ein paar Wochen besuchten wir das Museum Wäschefabrik in Bielefeld. Bielefeld hat - was man als Auswärtiger nicht unbedingt weiß - eine lange Tradition als Textilstadt. In der Umgebung wurde Leinen angebaut, in der Stadt wurde gesponnen, gewebt und vernäht, und auch die Dürkopp AG, ein Hersteller von Nähmaschinen und Fahrrädern, ist bis heute in Bielefeld ansässig. Die Wäschefabrik versteckt sich hinter einem schmalen Durchgang zu einem hübschen Hofgarten mit Kirschbäumen und buchsbaumgesäumten Beeten im Bielefelder Textilviertel. Hier schlummerten die Fabrik und die angenzende Villa seit den frühen 1980er Jahren unberührt vor sich hin - mit komplett erhaltener Einrichtung.


Die schlafende Fabrik wurde 1986 von einem Bielefelder Fotografen wiederentdeckt und konnte in den 1990er Jahren nach Verhandlungen mit den Erben von einem Förderverein übernommen werden, der die Räume im Originalzustand erhält, die Geschichte der Besitzerfamilien erforscht und das Haus für Besucher offen hält.


Die Vereinigten Wäschefabriken Juhl & Helmke, so der ursprüngliche Name, bestanden seit 1906 und zogen 1912/13 in das eigens errichtete Gebäude. Hergestellt wurde die typische Aussteuerware: Bettwäsche, Tischwäsche und Nachtwäsche. Die wechselvolle Geschichte der Firma bis zu deren langsamen Niedergang in den 1960er Jahren, als sich die Textilproduktion ins Ausland verlagerte und die Aufträge zurückgingen, lässt man sich am besten in einer Führung durch das Haus erklären.   


Da im Nähsaal, in den Büros, der Versandabteilung und der Musterabteilung alles noch genau so ist, wie es verlassen wurde, als wäre die Arbeit nur kurz unterbrochen worden, unternimmt man als Besucher eine seltsam berührende Zeitreise, wenn man das Gebäude betritt. Auf den gegenüberliegenden Schreibtischen der beiden letzten Besitzer, zweier Brüder, stehen noch die gerahmten Fotos der Familie, jeder der beiden hatte einen eigenen, mit Initualen gekennzeichneten Radiergummi und eine Bleistiftstummelsammlung.

Im Nähsaal liegen immer noch Schnittmuster für die Nachthemden und Herrenhemden, die hier zuletzt noch produziert wurden, es gibt aufgerollte Bündel mit zugeschnittenen Teilen und Nähmaschinen aus fünf Jahrzehnten. Man könnte sich an eine der Maschinen setzen und losnähen - die Maschinen sind eingefädelt.. Gleichzeitig erscheint hier alles so angegilbt und brüchig, so aus der Zeit gefallen, dass der Kopf automatisch einen Sepiafilter über die Bilder legt: Die Zeiten, als in Deutschland noch unter Bedingungen, die denen ähneln, die wir heute aus Asien kennen, Textilien produziert wurden, erscheinen unendlich weit entfernt. 


Auch für Besucher, die sich nicht so sehr fürs Nähen interessieren, bietet die alte Wäschefabrik Interessantes: Im Versandkeller Kartons, Papier und eine Portotabelle von 1958, in der Buchhaltung eine kurz vor der Schließung der Fabrik angeschaffte Rechenmaschine, damals ein exorbitant teures Wunderwerk der Technik. Im Kundenbüro erhält man Einblick in die Kundenkartei, in der säumige Zahler mit roten Pappreitern gekennzeichnet werden.


Die Bettwäsche wurde durch Vertreter verkauft, die mit ihren Musterbüchern über Land reisten und Haus um Haus abklapperten. Später, in den 1970er Jahren, gab es gedruckte Kataloge mit Fotos, auf denen Verwaltungsmitarbeiterinnen der Firma in den Nachthemden des Unternehmens posierten. Auf lange Sicht nützte das alles nichts - so billig wie in Asien konnte man nicht produzieren, so dass die Fabrik mit zuletzt nur noch vier Mitarbeitern geschlossen wurde, ohne insolvent zu sein.


Es ist ein glücklicher Zufall, dass deshalb die gesamte Einrichtung original erhalten wurde und so einen anschaulichen und unvermittelten Einblick in die Produktionsbedingungen der weitgehend untergegangenen deutschen Textilindustrie geben kann, der in einem herkömmlichen Museum so nicht möglich ist. Ein Glücksfall war auch unsere Führerin, die uns kreuz und quer durch die Fabrik und die erhaltenen Wohnräume der Besitzerfamilie geleitete, voller Geschichten über die Näherinnen und die Abläufe in der Firma, die mit Hilfe von Zeitzeugen nach und nach rekonstruiert werden.

Der Besuch war ein eindrückliches Erlebnis, und ich bin der Bielefelder Truppe Frau Knopf, Bunte Kleider, Das Büro für schöne Dinge und Mema sehr dankbar, dass sie diesen Programmpunkt für uns organisierten - denn wie gesagt, als Auswärtige ahnt man ja gar nicht, was einem in Bielefeld alles entgeht.   

Museum Wäschefabrik Bielefeld
Viktoriastr. 48a
33602 Bielefeld

geöffnet Sonntag 11.00-18.00 Uhr und mit Führung nach individueller Vereinbarung
www.museum-waeschefabrik.de/

19 Kommentare:

  1. Schön, dass es Menschen gibt, die sich solcher Projekte annehmen.
    Sollte ich mal im Raum Bielefeld sein, schaue ich mir das Museum auf jeden Fall an.
    Danke für´s Mitnehmen!
    Liebe Grüße von Heike

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  2. Oh schön, so einen verwunschenen Ort gesehen zu haben.
    Ich kann mich auch noch erinnern, dass früher zu uns so ein Wäschevertreter kam, der "Aussteuer-Sachen" anbot und in meinem Schrank habe ich noch ein Handtuch, das meine Mutter für mich in den 60iger-Jahren gekauft hat. So eine Webart gibt es vielleicht heute gar nicht mehr.
    Viele liebe Grüße
    schurrmurr

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  3. oh, da möchte ich auch mal hin! Klingt unheimlich interessant!!

    lg

    KArin

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  4. für solche geschichte(n) interessiere ich mich besonders. ähnliches kann ich aus meiner heimatstadt berichten. da gab es früher eine rege und große lederwarenindustrie, aber inzwischen sind es nur noch vereinzelte, kleine betriebe in den eingemeindeten vororten der stadt - im zentrum ist da alles so gut wie ausgestorben, weil die großen firmen wie goldpfeil seit jahren in asien produzieren.

    desgleichen mit einer fabrik, die sehr schöne feuerzeuge herstellte und bei denen ich vor jahren mal eine besichtigung mitmachen durfte.

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  5. Besser konnte man dieses wundervolle Erlebnis nicht beschreiben, ich war auch sehr angetan von dieser Führung.
    LG Doreen

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  6. Ein toller Bericht, herzlichen Dank - ich habe ja die Wäschefabrik bereits in meine Ausflugskarte eingetragen, habe jetzt aber auch noch diesen Bericht eingetragen :-)
    Liebe Grüsse vom Wullechneuel

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  7. Sehr schön beschrieben. Unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht und dass so eine Fabrik um Urzustand die Jahre über vor sich hingeschlummert hat. Wenn Geschichte und Vergänglichkeit so lebendig und so begreifbar werden, dann macht mich das oft so ehrführchtig.

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  8. Hallo liebe Lucy,
    ich finde den Bericht zwar auch sehr gut und interessant, möchte dir aber ganz unbedingt in einem sehr wichtigem punkt vollkommen widersprechen.
    die arbeitsbedingungen im D der 1960er waren bessere als sie je vorher waren und jemals danach wurden.
    es war die zeit der Hochkonjunktur, wo jeder einzelne Facharbeiter gesucht wurde. es gab Sicherheitsstandards und es gab auch damals noch sehr aktive Gewerkschaften.
    das ist nicht im entferntestem mit den Bedingungen heute in Asien zu vergleichen.
    auch wenn die menschen eine 40 stunden arbeitswoche hatten, so wurden sie dennoch nicht derartig ausgebeutet wie es heute - und auch in D- fast rundum üblich ist. von dem Arbeitseinkommen konnte man damals tatsächlich leben, eine Familie ernähren.
    die Verlagerung der Textilindustrie ins geographisch östliche weltgebiet dürfte andere gründe gehabt haben, als nur den monitären, der heute Standard ist.
    es stieg das konsumverhalten und die vorhandenen Kapazitäten konnten den nicht mehr erfüllen. zumal D damals bereits den zu diesem Zeitpunkt schon schwer heruntergekommenem= fast völlig zum erliegen gekommenem größten europäischen textilproduzenten GB sozusagen ersetzen mußte, wollte und auch eine zeitlang konnte. bis eben die Kapazitäten überfordert waren.
    erst nach dem zusammenbruch des gesamten ostblocks, und dem beginn der sog.globalisierung, ging es nur noch um den Profit und damit dann auch um die komplette Verlagerung in immer neue billigere produktionsgebiete.

    ich habe letztlich bei einer recherche entdeckt, dass es inzwischen Automaten gibt, die anzüge, Hemden, jackkets vollständig alleine nähen. inkl. der einlagen. - aber das ist ja den billig-ver-und ein-käufern zu teuer, sie nutzen lieber die billigere menschliche produktionsweise.

    lg
    carola

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    1. Bei der Wäschefabrik in Bielefeld im Speziellen spielte wohl auch noch eine Rolle, dass deren Produkte, diese typische "Aussteuerwäsche" mit weißen Spitzen etc. in den 60ern dann nicht mehr so stark nachgefragt wurde. Zwar war Aussteuer durchaus noch üblich, aber es wurde wohl nicht mehr so viel gekauft, lieber ein Sparbuch angelegt, und mit Nachthemden und ein bißchen Oberhemden konnte man die Lücke nicht füllen. Andere Produkte hatte die Firma nicht, also möglicherweise waren es falsche unternehmerische Entscheidungen (oder das Vermeiden von Entscheidungen), die letztlich dazu führten, dass der Laden nicht mehr lief. Aber der Förderverein ist - soweit ich das verstanden habe - selbst noch dabei, die Geschichte der Firma zu rekonstruieren.

      Die Arbeitsbedingungen dort in der Näherei waren schon ziemlich hart - 10-Stunden-Arbeitstage, dicht an dicht sitzen in einem unglaublichen Lärm, wenn alle Maschinen gleichzeitig liefen - und es war ein Job, der in der Regel nur wenige Jahre gemacht wurde, bis die beschäftigten Frauen heirateten. Aber du hast sicher Recht, dass die Bedingungen in den 1960ern noch mal anders waren als in den 1920ern, das muss man differenzieren. Einen Betriebsrat hatten die da aber wohl nicht - das war wohl ein ganz patriachalisch geführter Laden, wo die Gewerkschaft niemals rein kam.

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  9. Oh, wie schön! Ich bin jetzt ein wenig betrübt, dass ich nicht dabei sein konnte. Ich hoffe jetzt, dass wir zur nächsten AnNährung nochmal die Gelegenheit bekommen uns das anzuschauen.
    LG Nina

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  10. Das sieht ja spannend aus. Schade, dass es letzten Freitag nicht geklappt hat - hast bestimmt meine Nachricht gehört :(

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    1. Ja, schade - vielleicht fahren wir da ja nochmal in anderer Konstellation hin, es lohnt sich auf jeden Fall.

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  11. Danke für den schönen Bericht!

    Irgendwie finde ich das auch gruselig. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Als würden gleich die Arbeiter aus der Mittagspause zurück kommen und sich wieder an die Maschinen setzen. Das Ende muss ja wirklich sehr plötzlich gekommen sein, sonst hätte man doch keine Teile mehr zugeschnitten, sondern vielleicht die Maschinen und das Material verkauft, die Privatfotos mit nach Hause genommen etc. *schauder*

    Liebe Grüße,
    Henriette

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    1. Schon wieder zu schnell abgeschickt, dabei wollte ich doch noch einen Gedanken loswerden:
      Es gibt ja schon die Stoff-Kauf-Karte von Edeltraud-mit-Punkten:
      http://edeltraudmitpunkten.blogspot.de/p/stoff-karte.html

      Wunderbar wäre doch so etwas für Museen und was es sonst noch um Mode und Textilien herum gibt, entweder als Karte oder als Buch. Was denkst Du darüber? Oder gibt es so etwas schon?

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    2. Ja, das gibt es schon - Lily, die oben kommentiert hat, hat eine Ausflugskarte textiles Handwerk angelegt: Ausflugskarte
      Ich werde mal sehen, ob man hier irgendwo prominenter darauf verweisen könnte - dauerhaft verlinkt an der Seite oder so.

      Dass die Fabrik so aussieht, als hätte man alles ganz hastig verlassen, wirkt wirklich sehr merkwürdig, das ging mir auch so. Einer der beiden Brüder, denen die Firma zuletzt gehörte, lebte bis zu seinem Tod in der Villa nebenan, der andere war schon gestorben, und so blieb einfch alles so, wie es war. Aufräumen und Ausräumen hätte auch wieder Geld gekostet, denn das hätte der alte Mann ja nicht selber machen können, und der Rest der Familie hatte offenbar kein Interesse.

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    3. Ach super!
      Danke!
      Ich habe es gleich auch in meinem Blog in die Seitenleiste eingebaut. Und die Stoff-Karte von Edeltraud auch.

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  12. Danke für diesen Einblick.
    Carmen

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  13. Vielen, vielen Dank für diesen interessangten Bericht! Ich liebe solche Museen, wo man das Leben und Arbeiten früherer Zeiten so hautnah erleben kann und dieses Museum kannte ich noch gar nicht. Freue mich sehr darüber und werde meine Schritte bald in Richtung Bielefeld lenken!

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