Mittwoch, 2. Dezember 2020

Der rote Wollmantel (107 aus Burdastyle 10/2018) oder: eine typische Geschichte

Gerade noch rechtzeitig vor dem Beginn der Winterkälte hier im Nordosten ist mein Wollmantel fertig geworden. Ich hatte das Projekt im Januar 2019 bei der Annäherung in Bielefeld begonnen, und es scheint bei mir ein Naturgesetz des Nähens zu sein, dass ein Mantel immer erst ein Jahr ablagern muss (mindestens!) bis er fertig gestellt wird. In Bielefeld brauchte ich ewig für die Taschen - Paspeltaschen mit Klappe, auf die die Teilungsnaht im Oberteil zuläuft - fürs Zusammennähen, fürs Bügeln, und ich wDar dann schon ganz stolz, dass ich mit einer zusammengenähten Mantel-Außenhülle nach Hause fahrren konnte. Der Schnitt, Nurmmer 107 aus Burdastyle 10/2018 ist immerhin ein Vier-Punkte-Projekt bei Burda.

 

Der Mantel hing dann - auch das ist mittlerweile Tradtion - den ganzen Sommer auf einem Kleiderbügel hinter der Tür meines Nähzimmers. Der Herbst 2019 verging, ich hatte keine Lust, mich ans Füttern zu machen.

 

Es wurde Winter, der Jahreswechsel kam und die Annäherung 2020 näherte sich. Ich dachte an den Mantel, an das Futter und stellte fest, dass ich keine Ahnung hatte, wo sich der herauskopierte Schnitt des Mantels befand. Ich suchte einen halben Nachmittag und schaute in gefühlt tausend Klarsichthüllen und kam dann zu der Überzeugung, dass ich den Schnitt bestimmt bei einer Aufräumaktion weggeworfen hatte. Alles nochmal schnell neu auskopieren, damit der Mantel vor dem Nähtreffen 2020 fertig werden konnte? Niemals! Ich nähte in Bielefeld einfach was anderes, der halbfertige Mantel blieb auf dem Bügel hinter der Tür.

 Irgendwann im Frühjahr (genau erinnere ich mich nicht), fing ich tatsächlich an, den Futterschnitt noch einmal herauszukopieren - also zumindest die Ärmel, da relativ kleine Teile. Diese Anstrengung versandete aber irgendwann. Da fand ich eines Tages, als ich Regal mit den Nähbüchern etwas ganz anderes suchte, meine Schnittkopie von 2019 wieder. Ich hatte sie - sicher mit dem Gedanken, dass ich sie ja bald brauchen würde - zusammengefaltet quer auf eine Reihe Bücher ins Regal geschoben, von vorne leider so gut wie unsichtbar. Das Wiederfinden des Schnittmusters motivierte mich ein wenig, aber nicht so sehr, als dass ich im (heißen) Sommer einen wolligen Mantel zuendegenäht hätte. Das schaffte erst das virtuelle Nähkränzchen am Wochenende vor zwei Wochen, wo ich mich zuerst in Plänen und Träumen über schöne, neue Nähprojekte erging, ehe ich wieder an den Mantel dachte und dann wirklich, aber jetzt WIRKLICH das Futter für den Mantel zuschnitt und im Laufe des Wochenendes einnähte.

Es gab auch so gut wie keine Pannen dabei - außer: 

1. Das Futter war - nach Anleitung zugeschnitten - etwa 5 cm zu kurz. Das ist mir tatsächlich bei Burda-Schnittmustern schon öfter passiert, nach meiner Erfahrung reicht es nie, wenn man wie angegeben die Futterteile mit nur 1,5 cm Saumzugabe zuschneidet. Leider war mir dieses Wissen im entscheidenden Moment entfallen, aber ich schreibe es hier noch einmal auf, dann erinnere ich mich vielleicht beim nächsten Mal daran. Ich fand es dann etwas doof, schwarzes Futter anzustückeln, sondern verwendete einen Rest hellblauen Futterstoff, gut zum dunkelroten Oberstoff passt. Das ist sogar ein ganz guter Kompromiss, denn ich hatte zuerst überlegt, ein farbiges Futter einzunähen, mich dann aber doch für langweiliges Schwarz entschieden.   

2. Ich schnitt bei dem Versuch, die Nahtzugabe des Futters am Schlitz im Rückenteil zurückzuschnieden, auf einer Seite in das Futterrückenteil. Das sah zuerst ziemlich dramatisch aus, aber irgendwie war an der Stelle genügend Futterstoff vorhanden, so dass ich den Einschnitt beim Ansäumen am Schlitzbeleg nach innen schieben konnte. Ich verstehe im Grunde nicht ganz, wie das sein kann, aber auf jeden Fall sieht das Futter OK aus, der Schnitt ist weg, es spannt nirgends - also bin ich zufrieden. Die feinheiten des Abfütterns, bei denen ich nicht besonders fit bin, sind wahrscheinlich das, was den vierten Schwierigkeitspunkt bei diesem Schnitt ausmacht.

Hier nochmal zum Angeben die Paspeltasche aus der Nähe! 

Beim MeMadeMittwoch versammeln sich heute wieder Menschen im Selbstgenähten - ich bin gespannt, wie viele Mäntel dabei sind. 

Details zum Schnitt:

Schnittmuster: 107 aus Burdastyle 10/2018

Stoff: ca. 3,20 m dunkelroter Wollstoff , ca. 2 m schwarzes Viskosefutter und ein Futterstreifen in hellblau von ca. 7,5 cm Breite

4 Druckknöpfe

Einlage: auf dem gesamten Vorderteil, Kragen, ein Streifen auf Ärmelsäumen und Säumen und auf den Schlitzkanten im Rückenteil. Ärmelfische und dünne Schulterpolster. 

Nochmal "Zur Hölle mit der Mode" und Elizabeth Hawes - Modedesignerin, Journalistin, Gewerkschafterin und Autorin

Mehr Zeit als ich wollte, ist seit meinem ersten Artikel über die großartige Desigerin Elizabeth Hawes und ihr Buch über die Modeindustrie  der 1920er und 1930er Jahre vergangen. Wer das noch einmal nachlesen will: Hier findet sich die Zusammenfassung, worum es in "Zur Hölle mit der Mode" geht, Elizabeth Hawes erstem Buch über ihre Zeit als Designerin in Paris und New York. Heute will ich, wie versprochen, etwas mehr über die Autorin erzählen. Elizabeth Hawes war nämlich eine sehr interessante Frau, die nach ihrer Zeit in der Modebranche ein ziemlich bewegtes Leben hatte, das sie bis in die Karibik führte. 

Auf die englische Fassung von "Zur Hölle mit der Mode" wurde ich vor vier bis fünf Jahren in irgendeinem us-amerikanischen Nähblog aufmerksam. Das Buch wurde dort besprochen, machte mich neugierig, ich besorgte mir ein Exemplar und las es gebannt in einem Rutsch durch. (Und fragte mich schon damals, warum es das eigentlich nicht auf Deutsch gibt und warum ich noch nirgends einen vergleichbaren Blick hinter die Kulissen des Modegeschäfts gelesen hatte.) 

Aber neben dem Insiderwissen, das dort ausgebreitet wird, neben dem Blick auf die Gesellschaft der 1920er und 1930er Jahre, faszinierte mich auch die Autorin. Elizabeth Hawes ist witzig, ironisch und intelligent und mit analytischem Verstand und einem nicht geringen Selbstbewusstsein ausgestattet. Mir gefiel sehr, wie unverblümt sie benennt, was ihrer Ansicht nach in der Modebranche schief läuft - Produktpiraterie, miese Stoffqualität, das Lancieren von Pseudo-Trends, das Entwerfen an den Wünschen der Kundinnen vorbei - und wie sie natürlich der Meinung ist, eine bessere Lösung zu haben - sie erschien mir etwas anstrengend, aber sympathisch.

"Zur Hölle mit der Mode" muss 1938 ziemlich eingeschlagen haben, obwohl oder weil Hawes sich in der Modebranche damit keine Freunde machte und darin für ihre Zeit radikale Positionen vertrat, zum Beispiel plädierte sie für bunte, phantasievolle Männerkleidung (und warum nicht mal Röcke?) und berichtete von ihrer Reise in die Sowjetunion. In New York wurde sie eine kleine Berühmtheit, eine unkonventionelle Erscheinung, wenn sie mit flachen Schuhen, ohne Hut und Lippenstift, mit offenen, langen Haaren und in einem weiten Rock über die Fifth Avenue spazierte - ein fast skandalöser Anblick zwischen den sorgfältig zurechtgemachten Frauen und den Männern in formellen Anzügen. Hier gibt es einige Fotos von Elizabeth Hawes aus dieser Zeit (darunter auch einige private Partyschnappschüsse). Auch geschäftlich war sie in den späten 1930er Jahren sehr erfolgreich, ihr Modesalon brummte und sie hatte eine Menge Designaufträge nebenher. 

In den 1940er Jahren änderte sich die Situation: Elizabeth Hawes war früh klar, dass das Eingreifen der USA in den Krieg in Europa nur eine Frage der Zeit war und dass dies ihrem Geschäft die Grundlage entziehen würde -  und davon abgesehen hatte sie wohl auch die Lust verloren, sich mit den Bedürfnissen der vermögenden Kundinnen, die sich ihre Entwürfe leisten konnten, herumzuschlagen. Sie wollte das Leben der amerikanischen Durchschnittsfrau durch ihre Kleidung verbessern, wie man aus "Zur Hölle mit der Mode" erfährt, und nicht nur für die entwerfen, die sich sowieso alles kaufen konnten.

In den 1940er Jahren unternimmt Elizabeth Hawes mehrere Versuche, diese praktische Verbesserung des Lebens von Frauen anzugehen. Sie betreut für eine neu gegründete links-liberale Boulevardzeitung die Rubrik "News for Living", eine Kolumne mit Tipps zum sparsamen Auffrischen der Garderobe, über aktuelle Sonderangebote, Mode, Kosmetik, Unterhaltung und Unternehmungen mit kleinem Budget, als praktische Hilfe für Frauen, die aufs Geld achten mussten. 

Im Frühjahr 1943 heuert Elizabeth Hawes bei einer Flugzeugfabrik an und fräst im Akkord Metallteile für die Produktion von Kampfbombern. In der Nachtschicht, sechs Tage die Woche von Mitternacht bis zum Morgen, wenn sie nach Hause fährt, ihr Kind weckt und es schulfertig macht. Über dieses unglaublich harte Leben, das sie selbst nur wenige Wochen durchhält, zu dem aber die meisten ihrer ehemaligen Kolleginnen keine Alternative haben, schreibt sie ebenfalls ein Buch: "Why women cry" (1943). Auch dieses Buch habe ich mit großer Faszination verschlungen, denn es gewährt einen Blick in diese Kriegsindustrie und in das Leben nicht privilegierter Frauen in den USA, wie ich es sonst noch nirgends gelesen hatte. Elizabeth Hawes entwickelt darin auch ihre höchst modernen Ideen, wie sich Hausarbeit und Kinderbetreuung in Kollektiven so organisieren ließen, dass die Frauen die Dreifachbelastung durch Arbeit, Haushalt, Kindererziehung auf mehrere Schultern verteilen können. 

1944/45 lebt sie kurze Zeit in Detroit und versucht, Frauen in der Gewerkschaft der "United Auto Workers" zu organisieren. Dies wird zwar einerseits von den Gewerkschaftsfunktionären gefördert - denn die billige Arbeitskraft von Frauen wird als Gefahr für die Jobs der Männer gesehen - andererseits gilt Elizabeth Hawes mit ihren Ideen von Gleichberechtigung als "zu links" und und eckt in der Gewerkschaftshierarchie immer wieder an.

 Mit dem Kriegsende wird Elizabeth Hawes, wie die meisten Frauen, die während des Krieges in der Industrie gearbeitet hatten, ins Hausfrauendasein geschickt. Die Jobs bekommen die zurückgekehrten Männer, die Frauen sollen sich mit der traditionellen Rollenverteilung abfinden. Der Weg zurück in ihren alten Beruf, die Mode, ist Elizabeth Hawes verschlossen: Mittlerweile wird sie als radikale Linke angesehen und sogar vom FBI beobachtet. Vermutlich deswegen gelingt es ihr nicht, eine Anstellung in der Modeindustrie oder im Modejournalismus zu finden. 


In der einzigen Biographie, die über Elizabeth Hawes erschienen ist ("Radical by design. The life and styles of Elizabeth Hawes"; New York 1988), versucht die Autorin Bettina Berch, diese Zeit auch mit Hilfe von Geheimdienstakten zu rekonstruieren. Es bleibt vieles im Dunkeln, aber sicher ist, dass Elizabeth Hawes Anfang der 1950er Jahre  nach Saint Croix, eine Insel der Kleinen Antillen und amerikanisches Außengebiet zieht. Die Insel ist in dieser Zeit ein Zufluchtsort für viele Amerikaner, die dort mit relativ wenig Geld komfortabel und sehr entspannt leben können. Auch darüber veröffentlichte Elizabeth Hawes später ein Buch - und sprach darin auch den Rassismus an, der die Beziehungen von weißen Festlandsamerikanern und den "Crucians" bestimmte.

In den 1960er Jahren scheint Elizabeth Hawes dann ein nomadisches Leben geführt zu haben. Mal in San Francisco, mal in New York, nahm sie noch ab und zu Designaufträge an, um sich über Wasser zu halten. 1967 gab es im Fashion Institute of Technlogy in New York eine Retrospektive ihrer Werke.  Elizabeth Hawes Kleider aus den 1930er und 1940er Jahren mit ihrer zeitlosen Modernität wurden zusammen mit denen des jungen Designers Rudi Gernreich in einer sehr erfolgreichen Show gezeigt. Elizabeth Hawes starb 1971, mit 68 Jahren, in New York an Leberzirrhose, und auch wenn ihr Ende nicht dem angemessen erscheint, was sie sich einmal vom Leben erhofft haben mag, möchte ich sie als Elizabeth Hawes, die geniale Designerin in Erinnerung behalten, deren Kleider heute im Metropolitan Museum of Art in New York ausgestellt werden -  klickt euch durch die Sammlung.  Bewundert die raffinierten, von Madeleine Vionnet, ihrem großen Vorbild, inspirierten Schnittführungen, die ungewöhnlichen Farbkombinationen, die tragbaren, unaufgeregten, aber nicht langweiligen Designs.

Und ich möchte an Elizabeth Hawes, die vor Witz sprühende, immer den Finger in die Wunde legende Autorin erinnern, wie man sie in "Zur Hölle mit der Mode" kennenlernt, und deshalb veranstalte ich am Mittwoch, 16.12.2020 - ihrem 117. Geburtstag - um 20.30 Uhr eine Online-Lesung auf https://www.twitch.tv/textilfernsehen. Ich freue mich auf euch!

Alle Informationen und einen Blick ins Buch findet man hier bei Texte und Textilien.