Neues Quartal, neue Schnittmusterparade: Seit der
letzten Übersicht Anfang März sind wieder eine Menge neue Schnitte bei den kleinen, unabhängigen Firmen erschienen.
Bevor ich aber zu den Schnitten komme, müssen wir über Gertie reden. Bestimmt haben viele von euch, so wie ich, jahrelang die Karriere von Gertie von
Gertie's new blog für better sewing verfolgt. Was als privates Nähblog begann, mündete in mehrere Nähbücher, Stoffkollektionen und Schnittmuster in Zusammenarbeit mit Butterick. Die Hintergrundgeschichte des Blogs (kurz gefasst: Gertie, deprimiert und ohne Job, nimmt sich vor, alle Schnitte aus dem "Vogue book for better sewing" nachzunähen und zieht sich Dank dieses Vorhabens an den eigenen Haaren aus dem Sumpf, ändert ihr Leben und wird glücklich) schien mir zwar immer ein bißchen
zu gut maßgeschneidert und vielleicht nicht zufällig der Geschichte von
Julie&Julia von Julie Powell auffallend ähnlich, aber das war letztlich nicht wichtig. Gertie plauderte nicht nur übers Nähen, sondern auch über Politik, Mode, Kulturgeschichte, Feminismus. Sie stritt für weibliches Selbstbewusstsein unabhängig von Konfektionsgrößen und machte auf mich den Eindruck eines Menschen mit Sinn für Ironie, der großen Spaß an Kleidung hat, ein Spaß, der sich unmittelbar auf die Leserinnen übertrug. Gerties Kleidungsstil ist eigentlich nicht mein Fall, aber trotzdem las ich ihr Blog sehr gerne, wegen ihres weiter gefassten Blicks auf das Thema Handarbeit, dem Humor, ihrer Begeisterung.
Gertie war dann die erste bekannte Nähbloggerin, die ein Buch veröffentlichte, was danach kam, die weiteren Bücher, die violetten Haare, die Stoffe und die Butterick-Schnitte, verfolgte ich nur noch am Rande. Vor kurzem wurde ich auf Gertie wieder aufmerksam, denn sie startete eine Finanzierungsrunde bei Kickstarter,
um mit "Charm Patterns" ihre eigene Schnittmusterfirma gründen zu können. Ihr Finanzierungsziel wurde um ein Mehrfaches übertroffen, die ersten Schnitte - eine schulterfreie Bluse und ein Halterneckkleid - sollen als Papierschnitte und pdf-Schnitte im August ausgeliefert werden. Gleichzeitig ist Gertie auch in ihren anderen Geschäftsfeldern sehr aktiv, gibt Nähkurse und bereiste gerade Australien, um für ihre Stoffkollektion zu werben. Ein bißchen erschreckt war ich, als ich mal wieder
ihr Blog und ihren
Instagramfeed anschaute, denn die Leichtigkeit, die Begeisterung und der Blick über den Tellerrand der Nähszene, an die ich mich erinnere, finde ich dort nicht mehr. Gertie ist geglätteter, dünner, mit immer dem gleichen Lächeln, auf professionellen, stark bearbeiteten Fotos, die Bilder haben fast etwas Karikaturhaftes, Überzeichnetes. Sie zeigen große Disziplin, Professionalität und Selbstbeherrschung, und ich glaube, es ist gerade sehr anstrengend, Gertie zu sein. Das ist beileibe keine Kritik! Es ist beeindruckend, was Gertie nur mit einer Idee, aus dem Nichts heraus, aufgebaut hat, und ich kann die Zwänge, denen sie zu diesem Zeitpunkt ihrer Karriere unterliegt, sehr gut nachvollziehen. Ich hoffe nur, dass sie sich einen Platz bewahrt hat, an dem sie nicht Gertie sein muss, sondern Gretchen Hirsch sein kann, die daran Freude hat, sich ein Kleid zu nähen.
Leserinnentipp: dpstudio
Kleine, unabhängige Schnittmusterfirmen, die nicht so sehr auf den Massenmarkt schielen, können es sich leisten, sehr modische, ungewöhnliche Schnitte zu vertreiben.
dpstudio aus Frankreich war der Tipp von Leserin Lily bei der
Schnittmusterparade im März. Die Schnitte lehnen sich an an die Trends an, die Burda zu modisch finden würde: viel Asymmetrisches, Knoten und Volants, die Modelle erinnern mich an die Sachen, die in Berlin im
Voo Store hängen, einem der gerade angesagtesten Klamottenläden der Stadt. Den
flattrigen Godetrock finde ich sehr schön, den
Knotenrock interessant, das
Kleid 905 mit den sportlichen Streifen spricht mich auch an und der
asymmetrische Rock 401, der aussieht, wie aus zwei Röcken zusammengesetzt, sieht spannend aus, vielleicht ein bißchen zu gewollt spannend. Das sind jedenfalls Schnitte, die man nicht selbst so ohne weiteres aus vorhandenen Schnitten ableiten könnte, und die ungewöhnlichen Konstruktionen machen mir große Lust, ihnen nähend auf den Grund zu gehen. Danke nochmal für den Tipp, Lily! Einige Bloggerinnen haben schon Schnitte von dpstudio genät: Den Knotenrock
hier, die Bluse 601 mit dem Rüscheneinsatz
hier und
hier, das Sweatshirt 504
hier und die Bluse 603 mit den gerafften Ärmeln
hier.
Dass die Neunziger, modisch gesehen, zurück sind, finde ich ja im Prinzip nicht schlecht, es gibt vieles, was man an diesem Jahrzehnt mögen kann: Lange geschlitzte Röcke zum Beispiel, Netzstrumpfhosen und schwarzgrundige Viskoseblumenstoffe. Dass Bodysuits zurückkehren würden, schien mir aber vollkommen unmöglich, denn sie zeichneten sich schon in der ersten Runde meistens nicht gerade durch Bequemlichkeit und Praktikabilität aus, ich konnte mich nie damit anfreunden Aber ich muss mich wohl an den Gedanken gewöhnen, denn eines der neuen Schnittmuster von
Megan Nielsen ist ein
Bodysuit namens Rowan, und es gibt den Schnitt nicht nur mit kurzen Ärmeln, rundem- oder V-Ausschnitt, sondern auch als enges, langärmeliges Rollkragenshirt. Ich fühle mich schon eingeengt, wenn ich nur daran denke. Den zweiten neuen Schnitt, die
Flint Pants, eine
weite Hose, nahe am Hosenrock, mit seitlichem Knopfverschluss oder Bindeband, finde ich hingegen ganz interessant. Damit wären wir dann schon bei einem modischen Revival der frühen 2000er Jahre.
Hemdkleider, die an ein verlängertes Herrenoberhemd oder an eine verlängerte Bluse erinnern, sind in letzter Zeit als Schnittmuster wie als Kaufkleidung sehr verbreitet, vielleicht zu verbreitet, denn oft handelt es sich nur um anspruchslos verarbeitete und designte Säcke mit dem Charme eines Kittels. Nicht so bei
Closetcasepatterns: Das
Kalle shirt dress, ein
Hemdkleid oder eine
Bluse mit
verschiedenen Längen, verschiedenen Saumverarbeitungen, Knopfleisten- und Kragenvariationen sieht nach einem durchdachten Schnittmuster mit vielen schönen Details aus. Mir gefällt die kurze Blusenversion mit dem breiten Saum besonders gut - und die Präsentation der Modelle aus einfarbigen Stoffen, mit Fotos von allen Seiten an einem Model mit einer durchschnittlichen Figur. Besser geht's nicht.
Neue Kollektionen: Deer&Doe und Papercut Patterns
Deer&Doe brachte im März eine
neue Kollektion mit drei Schnittmustern heraus, also eher eine Mini-Kollektion, denn für alle Lebenslagen angezogen ist man mit den drei Teilen noch nicht, sie passen aber alle gut zueinander. Es gibt eine locker sitzende
Fake-Wickelbluse (Hoya) mit dreiviertellangen oder kurzen Ärmeln, den
Schnitt Goji, der einen
knielangen Rock oder knapp knielange Shorts ergibt, und den
Trenchcoat Luzerne für einen kurzen, ungefütterten Mantel mit Prinzessnähten. Mir gefällt besonders der Trenchcoat, denn ich dachte nach dem klassischen Mantel, den ich
im April endlich fertignähte, gleich über ein zweites, weniger klassisch geschnittenes Modell nach, und
Luzerne trifft meine Vorstellung ziemlich gut.
Diese neuen Schnitte bietet
Deer&Doe erstmals auch als pdf zum Ausdrucken an und erweitert das Größenangebot nun bis zur Größe 52. Die älteren Schnitte werden nach und nach überarbeitet, bisher erschienen das Kleid
Belladonne und die Bluse
Datura neu als pdf.
Ganz frisch erschienen ist die sehr vielfältige
Sakura Collection von Papercut Patterns aus Neuseeland. Sie besteht aus neun Schnittmustern, die wirklich jedes Kleidungsbedürfnis abdecken. Für draußen und drinnen gibt es einen weiten,
gefütterten Mantel (
Sapporo Coat) und eine
Kimonojacke (
Kochi Kimono), die aus leichten Stoffen, aber auch aus Wollstoff genäht werden kann. Dazu drei ganz unterschiedliche Oberteile - ein locker sitzendes
Top mit Knoten im Vorderteil (
Aomori Twist Top), ein
Oberteil - auch als langes Kleid - mit Rückenausschnitt (
Kobe Dress/Top) und ein
T-Shirt oder Sweatshirt mit Rüschendetail am Ärmel (
Kyoto Sweater/Tee) - und zwei Unterteile: Die
Jeans Otsu mit interessanten Teilungsnähten und die
Hose Nagoya mit
weiten Beinen. Der Schnitt
Mito kann als
Unterkleid oder als luftiges Trägerkleid genäht werden, und zu allerletzt gibt es auch noch die
Tasche Himeji.
Neue Schnitte mit Retro-Ästhetik von Sew over it, Jennifer Lauren Vintage und Tilly and the Buttons
Bei
Sew over it gab es seit Mitte März vier neue Schnitte - die kleine Firma erhöhte Anfang des Jahres die Neuerscheinungs-Frequenz sehr stark und bringt nun Mitte jedes Monats ein Schnittmuster als pdf heraus und in größeren Abständen zusätzlich ein Papierschnittmuster. Der Stil ist immer noch gemäßigt Vintage, also in Anlehnung an Silhouetten früherer Jahrzehnte. Die
Kimonojacke in zwei Längen ist als leichter Strickjackenersatz gedacht. Die
Wickelbluse Ella hat ebenfalls Kimonoärmel, ganz wie in den 1950ern, und kann auch als kleines, taillenkurzes Oberteil über Kleidern getragen werden. Das
Wickelkleid Eve für feine, fließende Webstoffe hat zwei Saum- und zwei Ärmelvarianten, es erschien auch als Papierschnitt. Das
Kleid Lulu in A-Linie hat Raglanärmel und kann auch als Bluse genäht werden.
Jennifer Lauren Vintage ist Spezialistin für kombinierbare Schnitte, die sich auch gut in eine moderne Garderobe einfügen. Neu ist der
Juniper Cardigan, eine
geknöpfte Strickjacke in zwei Längen und zwei Ärmellängen. Der Schnitt hat eine besonders schöne Schulterpartie Dank einer Kombination aus Raglanärmel und eingesetztem Ärmel - ich weiß nicht, ob diese Konstruktion schon als Zungenraglan bezeichnet wird? - jedenfalls ist das ein ungewöhnliches Schnittdetail, das ich so noch nirgends gesehen habe. Der zweite neue Schnitt ist viel konventioneller und deutlicher "vintage", das
Laneway-Kleid hat ein schmales Oberteil mit kurzen Ärmeln und einen schwingenden Rock, es gibt drei Ausschnittvarianten und, das ist der eigentliche Reiz an dem Schnitt, angepasste Schnittteile für drei verschiedene Cupgrößen.
Der neue Schnitt von Tilly -
Tilly and the Buttons erinnert an die 60er Jahre à la
Mad Men:
Etta, ein
Etuikleid mit etwas hochgesetzter Taille, kleinen Ärmeln und verschiedenen Ausschnittlösungen. Mit diesem Schnitt bietet Tilly erstmals einen Video-Workshop an, der Schritt für Schritt durch das Nähen des Kleides führt. Ich bin gespannt, ob sich gefilmte Anleitungen durchsetzen werden in dem Teil des Schnittmustermarkts, der sich an Anfänger wendet.