Donnerstag, 14. Juli 2016

Vom preußischen Gardemaß zu 90-60-90: "Uni-Form? Körper, Mode und Arbeit nach Maß" - eine Ausstellung in Potsdam


Der Ursprung der Konfektionsgrößen, wie wir sie kennen, liegt beim preußischen Militär. Bereits im 18. Jahrhundert erstellte man dort drei standardisierte Schnittmustersätze für Uniformröcke, um die unteren Dienstgrade einzukleiden. So eine originale Uniform aus grobem Wolltuch - für einen für heutige Verhältnisse sehr kleinen und schmächtigen Soldaten - zeigt die Ausstellung "Uni-Form? Körper, Mode und Arbeit nach Maß" noch bis zum 24. Juli im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam. Die Entwicklung der Konfektionsgrößen vom Militär, über die zunächst firmenspezifischen Größensysteme der ersten Konfektionsbetriebe bis hin zu den modernen Reihenmessungen, zeichnet die kleine Ausstellung nach.

Selbernäherinnen werden wie ich viele Exponate mit einem wissenden Nicken begrüßen: Wir kennen aus alten Burdas und Pramos die unterschiedlichen Größensysteme in Ost und West, wir kennen die an den eigenen Körper anzupassende Schneiderbüste aus Drahtgeflecht und die immer nur halbwegs funktionierenden Systeme wie den Frohne Schnittzeichner, mit denen kleine Schnittschemata für die individuellen Körpermaße vergrößert werden sollten.


Neben dem Messen und Standardisieren werden weitere Aspekte der industriellen Bekleidungsproduktion angerissen: Die Willkürlichkeit der Größen, der Wandel des idealen Körpers im Verlauf der Zeit, das Absenken der Verarbeitungsstandards, die Notwendigkeit, dass sich ArbeiterInnen in der Bekleidungsindustrie in die industriellen Abläufe einfügen müssen, damit der Laden läuft. Da es sich um eine kleine Ausstellung handelt, werden diese Themen eher assoziativ angegangen, aber die Exponate fand ich gut ausgewählt. So hängt dort zum Beispiel eine Reihe Jacken, die man anfassen und begutachten darf: Eine günstiges Teil von Zara, ein individuell angefertiger Blazer einer Potsdamer Schneiderin, und, für mich besonders interessant, ein Frack und ein Gehrock von 1910 respektive 1915.Was für feste, robuste Stoffe als Außenstoff und Futter verarbeitet wurden! Wie schwer diese Jacken sind, dank mehrerer Einlageschichten - Stücke fürs Leben. Ich hatte sowas noch nie in der Hand gehabt, und freute mich sehr über die Gelegenheit, die Verarbeitung inspizieren zu können und das Gewicht der Materialien direkt spüren zu können,

Sehr spannend fand ich auch die Ausschnitte aus einer Langzeitdokumentation über den VEB für Obertrikotagen "Ernst Lück" in Wittstock/Dosse von Volker Koepp. Der Filmemacher hatte drei Textilarbeiterinnen seit der Eröfffnung des VEBs 1974 bei der Arbeit und in der Freizeit mit der Kamera begleitet, der letzte Film des Wittstock-Zyklus entstand in den 1990er Jahren. Alle sieben Teile kann man sich hier auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung ansehen - ein faszinierender Blick in ein Land, das es nicht mehr gibt und in eine Vergangenheit, die ich größenteils nicht bewusst erlebt habe.


Die in die Ausstellung eingestreuten modernen Kunstwerke, die sich mit dem Thema der Standardisierung von Körpern aus einem anderen Blickwinkel auseinandersetzen, gingen in dem schummrig abgedunkelten Raum - damit die historischen Textilien und Papiere nicht leiden - etwas unter, vielleicht ist es zu viel, auf so kleiner Fläche auch noch eine zweite Perspektive einbringen zu wollen. Aber das ist Gemecker auf hohem Niveau.

In erster Linie freut es mich, dass das Thema Kleidergrößen in dieser Ausstellung für die Allgemeinheit verständlich und dabei unterhaltsam aufbereitet und entmystifiziert wird. Für Menschen, die sich ihre Kleidung nicht selber nähen und sich daher noch nie bewusst mit Maßtabellen auseinandergesetzt haben, wird die Ausstellung sicher viele Aha-Erlebnisse bereithalten. Wenn sich dadurch das Bewusstsein verbreitet, dass unser heutiges Size-Zero-Ideal keine naturgegebene Konstante darstellt, hat sich diese Ausstellung schon gelohnt.   

Uni-Form? Körper, Arbeit und Mode nach Maß.

Ausstellung noch bis 24. 7.
Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte
Am neuen Markt 9, 14467 Potsdam

Geöffnet Di-Do 10-17.00, Fr-So 10-18.00 Uhr

11 Kommentare:

  1. Ohhh, man darf was anfassen! Das ist toll, gerade bei Textilien. Also muss ich es unbedingt noch dorthin schaffen. Vielen Dank für den Bericht!

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  2. Klingt super spannend! Danke für die Ausstellungsrezension und den Link zu der Dokumentation. Liebe Grüße, Manuela

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  3. Danke für Deinen anschaulichen Bericht! Vor allem das Befühlen der Stoff-Schwere hat mich sehr angesprochen, wann ist das schon mal möglich? Liebe Grüße, Gabi

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  4. Oh, das klingt ja interessant. Danke auch für die Filmtipps. Habe schon zwei Teile gesehen. LG Griselda K

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  5. Danke für den Tip! Da steht wohl bald ein Ausflug nach Potsdam auf dem Programm! Liebe Grüße, Zuzsa

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  6. Erst kürzlich entdeckt und leider nicht mehr zu schaffen in stark verplanter Zeit.Ja, wir tragen heute Leichtgewichte mit uns herum.Als Student als Ankleider in der Oper gearbeitet und so manches alte Teil angefasst. Danke für die Filmtipps.
    Maßgeschneiderte Grüße, Karen

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  7. Die Dokus sind echt super interessant, wie schnell die Zeit seit der Wende vergangen ist und aus Vor-Wende-Zeiten habe ich echt wenig mitgekriegt, eigentlich hätten wir sowas alle mal sehen müssen, um Anfang der 90er (als viele aus meinem Jahrgang im Osten "aufgebaut" haben), die Menschen und deren Arbeitsbedingungen sprich Planwirtschaft in der Praxis besser zu verstehen.

    LG
    Anja

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    1. Ging mir genauso. Die Wende ist schon so weit weg, und im Osten war ich immer nur zum Familienbesuch, vom Alltag hat man nicht viel mitbekommen.

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  8. Ich war zufällig letztes Wochenende bei meinen Eltern und konnte die Ausstellung noch besuchen. Vielen Dank für die Vorstellung, ohne deinen Post wäre ich nicht darauf aufmerksam geworden. :)

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  9. Ich war zufällig letztes Wochenende bei meinen Eltern und konnte die Ausstellung noch besuchen. Vielen Dank für die Vorstellung, ohne deinen Post wäre ich nicht darauf aufmerksam geworden. :)

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