Donnerstag, 15. Juni 2017

Schnittmusterparade 2/2017: Gerties Crowdfunding und neue Schnitte von hypermodisch bis retro

Neues Quartal, neue Schnittmusterparade: Seit der letzten Übersicht Anfang März sind wieder eine Menge neue Schnitte bei den kleinen, unabhängigen Firmen erschienen.

Bevor ich aber zu den Schnitten komme, müssen wir über Gertie reden. Bestimmt haben viele von euch, so wie ich, jahrelang die Karriere von Gertie von Gertie's new blog für better sewing verfolgt. Was als privates Nähblog begann, mündete in mehrere Nähbücher, Stoffkollektionen und Schnittmuster in Zusammenarbeit mit Butterick. Die Hintergrundgeschichte des Blogs (kurz gefasst: Gertie, deprimiert und ohne Job, nimmt sich vor, alle Schnitte aus dem "Vogue book for better sewing" nachzunähen und zieht sich Dank dieses Vorhabens an den eigenen Haaren aus dem Sumpf, ändert ihr Leben und wird glücklich) schien mir zwar immer ein bißchen zu gut maßgeschneidert und vielleicht nicht zufällig der Geschichte von Julie&Julia von Julie Powell  auffallend ähnlich, aber das war letztlich nicht wichtig. Gertie plauderte nicht nur übers Nähen, sondern auch über Politik, Mode, Kulturgeschichte, Feminismus. Sie stritt für weibliches Selbstbewusstsein unabhängig von Konfektionsgrößen und machte auf mich den Eindruck eines Menschen mit Sinn für Ironie, der großen Spaß an Kleidung hat, ein Spaß, der sich unmittelbar auf die Leserinnen übertrug. Gerties Kleidungsstil ist eigentlich nicht mein Fall, aber trotzdem las ich ihr Blog sehr gerne, wegen ihres weiter gefassten Blicks auf das Thema Handarbeit, dem Humor, ihrer Begeisterung. 

Gertie war dann die erste bekannte Nähbloggerin, die ein Buch veröffentlichte, was danach kam, die weiteren Bücher, die violetten Haare, die Stoffe und die Butterick-Schnitte, verfolgte ich nur noch am Rande. Vor kurzem wurde ich auf Gertie wieder aufmerksam, denn sie startete eine Finanzierungsrunde bei Kickstarter, um mit "Charm Patterns" ihre eigene Schnittmusterfirma gründen zu können. Ihr Finanzierungsziel wurde um ein Mehrfaches übertroffen, die ersten Schnitte - eine schulterfreie Bluse und ein Halterneckkleid - sollen als Papierschnitte und pdf-Schnitte im August ausgeliefert werden. Gleichzeitig ist Gertie auch in ihren anderen Geschäftsfeldern sehr aktiv, gibt Nähkurse und bereiste gerade Australien, um für ihre Stoffkollektion zu werben. Ein bißchen erschreckt war ich, als ich mal wieder ihr Blog und ihren Instagramfeed anschaute, denn die Leichtigkeit, die Begeisterung und der Blick über den Tellerrand der Nähszene, an die ich mich erinnere, finde ich dort nicht mehr. Gertie ist geglätteter, dünner, mit immer dem gleichen Lächeln, auf professionellen, stark bearbeiteten Fotos, die Bilder haben fast etwas Karikaturhaftes, Überzeichnetes. Sie zeigen große Disziplin, Professionalität und Selbstbeherrschung, und ich glaube, es ist gerade sehr anstrengend, Gertie zu sein. Das ist beileibe keine Kritik! Es ist beeindruckend, was Gertie nur mit einer Idee, aus dem Nichts heraus, aufgebaut hat, und ich kann die Zwänge, denen sie zu diesem Zeitpunkt ihrer Karriere unterliegt, sehr gut nachvollziehen. Ich hoffe nur, dass sie sich einen Platz bewahrt hat, an dem sie nicht Gertie sein muss, sondern Gretchen Hirsch sein kann, die daran Freude hat, sich ein Kleid zu nähen.

Leserinnentipp: dpstudio

 

Kleine, unabhängige Schnittmusterfirmen, die nicht so sehr auf den Massenmarkt schielen, können es sich leisten, sehr modische, ungewöhnliche Schnitte zu vertreiben. dpstudio aus Frankreich war der Tipp von Leserin Lily bei der Schnittmusterparade im März. Die Schnitte lehnen sich an an die Trends an, die Burda zu modisch finden würde: viel Asymmetrisches, Knoten und Volants, die Modelle erinnern mich an die Sachen, die in Berlin im Voo Store hängen, einem der gerade angesagtesten Klamottenläden der Stadt. Den flattrigen Godetrock finde ich sehr schön, den Knotenrock interessant, das Kleid 905 mit den sportlichen Streifen spricht mich auch an und der asymmetrische Rock 401, der aussieht, wie aus zwei Röcken zusammengesetzt, sieht spannend aus, vielleicht ein bißchen zu gewollt spannend. Das sind jedenfalls Schnitte, die man nicht selbst so ohne weiteres aus vorhandenen Schnitten ableiten könnte, und die ungewöhnlichen Konstruktionen machen mir große Lust, ihnen nähend auf den Grund zu gehen. Danke nochmal für den Tipp, Lily! Einige Bloggerinnen haben schon Schnitte von dpstudio genät: Den Knotenrock hier, die Bluse 601 mit dem Rüscheneinsatz hier und hier, das Sweatshirt 504 hier und die Bluse 603 mit den gerafften Ärmeln hier

Dass die Neunziger, modisch gesehen, zurück sind, finde ich ja im Prinzip nicht schlecht, es gibt vieles, was man an diesem Jahrzehnt mögen kann: Lange geschlitzte Röcke zum Beispiel, Netzstrumpfhosen und schwarzgrundige Viskoseblumenstoffe. Dass Bodysuits zurückkehren würden, schien mir aber vollkommen unmöglich, denn sie zeichneten sich schon in der ersten Runde meistens nicht gerade durch Bequemlichkeit und Praktikabilität aus, ich konnte mich nie damit anfreunden Aber ich muss mich wohl an den Gedanken gewöhnen, denn eines der neuen Schnittmuster von Megan Nielsen ist ein Bodysuit namens Rowan, und es gibt den Schnitt nicht nur mit kurzen Ärmeln, rundem- oder V-Ausschnitt, sondern auch als enges, langärmeliges Rollkragenshirt. Ich fühle mich schon eingeengt, wenn ich nur daran denke. Den zweiten neuen Schnitt, die Flint Pants, eine weite Hose, nahe am Hosenrock, mit seitlichem Knopfverschluss oder Bindeband, finde ich hingegen ganz interessant. Damit wären wir dann schon bei einem modischen Revival der frühen 2000er Jahre.

Hemdkleider, die an ein verlängertes Herrenoberhemd oder an eine verlängerte Bluse erinnern, sind in letzter Zeit als Schnittmuster wie als Kaufkleidung sehr verbreitet, vielleicht zu verbreitet, denn oft handelt es sich nur um anspruchslos verarbeitete und designte Säcke mit dem Charme eines Kittels. Nicht so bei Closetcasepatterns: Das Kalle shirt dress, ein Hemdkleid oder eine Bluse mit verschiedenen Längen, verschiedenen Saumverarbeitungen, Knopfleisten- und Kragenvariationen sieht nach einem durchdachten Schnittmuster mit vielen schönen Details aus. Mir gefällt die kurze Blusenversion mit dem breiten Saum besonders gut - und die Präsentation der Modelle aus einfarbigen Stoffen, mit Fotos von allen Seiten an einem Model mit einer durchschnittlichen Figur. Besser geht's nicht.   

Neue Kollektionen: Deer&Doe und Papercut Patterns


Deer&Doe brachte im März eine neue Kollektion mit drei Schnittmustern heraus, also eher eine Mini-Kollektion, denn für alle Lebenslagen angezogen ist man mit den drei Teilen noch nicht, sie passen aber alle gut zueinander. Es gibt eine locker sitzende Fake-Wickelbluse (Hoya) mit dreiviertellangen oder kurzen Ärmeln, den Schnitt Goji, der einen knielangen Rock oder knapp knielange Shorts ergibt, und den Trenchcoat Luzerne für einen kurzen, ungefütterten Mantel mit Prinzessnähten. Mir gefällt besonders der Trenchcoat, denn ich dachte nach dem klassischen Mantel, den ich im April endlich fertignähte, gleich über ein zweites,  weniger klassisch geschnittenes Modell nach, und Luzerne trifft meine Vorstellung ziemlich gut.

Diese neuen Schnitte bietet Deer&Doe erstmals auch als pdf zum Ausdrucken an und erweitert das Größenangebot nun bis zur Größe 52. Die älteren Schnitte werden nach und nach überarbeitet, bisher erschienen das Kleid Belladonne und die Bluse Datura neu als pdf.

Ganz frisch erschienen ist die sehr vielfältige Sakura Collection von Papercut Patterns aus Neuseeland. Sie besteht aus neun Schnittmustern, die wirklich jedes Kleidungsbedürfnis abdecken. Für draußen und drinnen gibt es einen weiten, gefütterten Mantel (Sapporo Coat) und eine Kimonojacke (Kochi Kimono), die aus leichten Stoffen, aber auch aus Wollstoff genäht werden kann. Dazu drei ganz unterschiedliche Oberteile - ein locker sitzendes Top mit Knoten im Vorderteil (Aomori Twist Top), ein Oberteil - auch als langes Kleid - mit Rückenausschnitt (Kobe Dress/Top) und ein T-Shirt oder Sweatshirt mit Rüschendetail am Ärmel (Kyoto Sweater/Tee)  - und zwei Unterteile: Die Jeans Otsu mit interessanten Teilungsnähten und die Hose Nagoya mit weiten Beinen. Der Schnitt Mito kann als Unterkleid oder als luftiges Trägerkleid genäht werden, und zu allerletzt gibt es auch noch die Tasche Himeji.  


Neue Schnitte mit Retro-Ästhetik  von Sew over it, Jennifer Lauren Vintage und Tilly and the Buttons


Bei Sew over it gab es seit Mitte März vier neue Schnitte - die kleine Firma erhöhte Anfang des Jahres die Neuerscheinungs-Frequenz sehr stark und bringt nun Mitte jedes Monats ein Schnittmuster als pdf heraus und in größeren Abständen zusätzlich ein Papierschnittmuster. Der Stil ist immer noch gemäßigt Vintage, also in Anlehnung an Silhouetten früherer Jahrzehnte. Die Kimonojacke in zwei Längen ist als leichter Strickjackenersatz gedacht. Die Wickelbluse Ella hat ebenfalls Kimonoärmel, ganz wie in den 1950ern, und kann auch als kleines, taillenkurzes Oberteil über Kleidern getragen werden. Das Wickelkleid Eve für feine, fließende Webstoffe hat zwei Saum- und zwei Ärmelvarianten, es erschien auch als Papierschnitt. Das Kleid Lulu in A-Linie hat Raglanärmel und kann auch als Bluse genäht werden.

Jennifer Lauren Vintage ist Spezialistin für kombinierbare Schnitte, die sich auch gut in eine moderne Garderobe einfügen. Neu ist der Juniper Cardigan, eine geknöpfte Strickjacke in zwei Längen und zwei Ärmellängen. Der Schnitt hat eine besonders schöne Schulterpartie Dank einer  Kombination aus Raglanärmel und eingesetztem Ärmel - ich weiß nicht, ob diese Konstruktion schon als Zungenraglan bezeichnet wird?  - jedenfalls ist das ein ungewöhnliches Schnittdetail, das ich so noch nirgends gesehen habe. Der zweite neue Schnitt ist viel konventioneller und deutlicher "vintage", das Laneway-Kleid hat ein schmales Oberteil mit kurzen Ärmeln und einen schwingenden Rock, es gibt drei Ausschnittvarianten und, das ist der eigentliche Reiz an dem Schnitt, angepasste Schnittteile für drei verschiedene Cupgrößen.

Der neue Schnitt von Tilly - Tilly and the Buttons erinnert an die 60er Jahre à la Mad Men: Etta, ein  Etuikleid mit etwas hochgesetzter Taille, kleinen Ärmeln und verschiedenen Ausschnittlösungen. Mit diesem Schnitt bietet Tilly erstmals einen Video-Workshop an, der Schritt für Schritt durch das Nähen des Kleides führt. Ich bin gespannt, ob sich gefilmte Anleitungen durchsetzen werden in dem Teil des Schnittmustermarkts, der sich an Anfänger wendet.

10 Kommentare:

  1. Danke für diese Zusammenstellung! Die Papercut Kollektion ist ja super, da könnt ich glatt die Hälfte der Schnitte bestellen:-)

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    1. Mir gefallen die Schnitte auch sehr gut, besonders die Bluse mit dem Knoten vorne. Hast du gesehen, das es die Schnitte auch als pdf gibt (eigene Rubrik im Shop)? Die Papierschnitte sind schon recht kostspielig, auch wenn kein Porto mehr dazukommt.

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  2. Vielen Dank für die ausführliche Zusammenstellung! Das sieht nach ganz viel Arbeit aus. Die Schnitte von dpstudios sind wirklich was Besonderes, die haben es mir angetan. LG Christa

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    1. Ja, mir auch, solche interessanten Designs findet man ja sonst kaum. Das war ein wirklich guter Tipp von Lily.

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  3. Im Geiste habe ich bei nahezu allen Sätzen "ja, genau" dahinter geschrieben. Das was du über Gertie schreibst, ist mir auch schon durch den Kopf gegangen. Derzeit fehlt mir auch das Freche, Lustige oder Verrückte an ihr. Sie passt sich Äußerlich sehr stark einem bestimmen Schönheitsideal an - und ich frage mich jedesmal, wie sie ihre Zähne so weiß hinbekommt ;-) Und der Knotenrock ist ja wirklich der Hammer. Danke für deinen Post. LG Carola

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    1. Ich frage mich vor allem, wie sie ihr Lächeln jedesmal gleich hinbekommt ;-) Auch wenn Fotoshop und Instagramfilter einiges ausrichten. Ich kann aber verstehen, dass sie sich als "echte Person" jetzt zurücknimmt. Das Hobby ist jetzt ihr Beruf, dadurch ändert sich einiges.
      viele Grüße!

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  4. na toll, war schon fast im Bett und musste jetzt erst den Jumpsuit bei dp studio bestellen. Die Rüschenbluse und der Hosenroch mit Geschirr folgen dann. Endlich mal Schnitte im einem gewissen Anspruch, juhe. Gertie ist mir auch aufgestossen...
    LG Sybille

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    1. Klasse, ich bin sehr gespannt auf die Sachen! Die Rüschenbluse finde ich auch interessant, wenn es die ist, die ich vermute.

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  5. Zu den Ärmeln vom Juniper Cardigan: solche gab es mal in der Ottobre an einem Shirt, dort wurden sie Sattelärmel genannt!

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  6. Für mich persönlich war der Juniper Cardigan die Entdeckung dieser Schnittmusterparade. Da ich leider nicht stricken kann, bin ich immer auf der Suche nach interessanten Schnitten für Cardigans. Bei Gertie frage ich mich, ob solche Veränderungen nicht die logische Konsequenz sind, wenn man sein Hobby zum Beruf macht? Der Verlust der Leichtigkeit und des Blickes über den Tellerrand sowie eine Tendenz zum Konformismus sind ja auch bei Anderen beobachtbar, die diesen Weg beschreiten ... Wie immer herzlichen Dank für diese Schnittmusterparade. LG, Manuela

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