Über den Sinn von vernünftigem Werkzeug fürs Handarbeiten müssen wir wohl nicht diskutieren. Wo man aber vernünftiges Werkzeug findet und wie man es erkennt, ist schon eher eine interessante Frage.
Bei der Auswahl des kleinen Scherenwracks links im Bild hatte ich kein glückliches Händchen. Die Schere stammte aus dem Kaufhaus, war nicht mal billig, schnitt von Anfang an nicht so gut wie sie sollte, und leider war ich nicht so schlau, sie sofort umzutauschen. Nach und nach lockerte sich die Verbindungsstelle zwischen den Scherenblättern und irgendwann verlor sich erst die kleine Mutter, die Schraube folgte dann vor einem halben Jahr. Bei solchen Kleinteilen ist es ja immer dasselbe: sie haben längst im Staubsaugerbeutel das Haus verlassen und sind über alle Berge, ehe ihr Fehlen überhaupt bemerkt wird.
Nach einem halben Jahr ohne funktionierende kleine Schere war ich am letzten Wochenende weichgeklopft und bereit, nochmal Geld auszugeben - eingedenk des bekannten Indianersprichworts "Wenn du bemerkst, dass du ein totes Pferd reitest - steig ab!" aber nicht für die Reparatur des Scherenwracks, sondern für einen neuen Anfang.
Auf dem Samstagmarkt am Winterfeldtplatz in Schöneberg gibt es einen Stand mit Messern aller Art - vom Skalpell bis zum Fleischerbeil - und mit Scheren in allen Formen und Größen, die ich schon ein- zweimal beäugt hatte. Dieses Mal rückte ich mit Stoffresten zum Probeschneiden an und legte nach etwas Geschnipsel hier und da 10 Euro für eine hübsche kleine, etwa 35 Jahre alte Handarbeitsschere an.
Der Händler verkauft größtenteils alte, aber unbenutzte Bestände von Solinger Messern und Scheren und lebt vor allem, wie er mir verriet, von Kunden wie mir, die zuerst irgendwas im Kaufhaus kaufen und dann nicht damit zufrieden sind (OK, so genau habe ich das eigentlich nicht wissen wollen, Lektion gelernt). Oder von Leuten, die ein geeignetes Schneidwerkzeug für ein ganz bestimmtes Material suchen und dann bei ihm am Stand ihren Proben testweise mit verschiedenen Klingen zu Leibe rücken können, ehe sie kaufen. Für textile Belange hätte es zum Beispiel auch noch eine kleine Schere speziell für dünne Seiden, eine Zackenschere, eine Applikationsschere, eine Lederschere und diverse Fadenabschneider gegeben.
Mein messeraffiner Liebster bekam einen kleinen anschaulichen Vortrag über die sehr unterschiedlichen Klingenformen, die in anderen europäischen Ländern als ideales Küchenmesser angesehen werden - die Unterschiede sind so groß, dass man eine europäische Kulturgeschichte des Messers schreiben könnte.
Mich macht schon das satte Schnipp!-Geräusch meiner neuen Schere glücklich, die im übrigen bis zur Spitze viel schärfer ist, als das Wrack zu seinen besten Zeiten. Falls die Schärfe nachlassen sollte, könnte ich sie am Stand auch neu schärfen lassen, aber ich nehme an, dass das sehr lange nicht nötig sein wird. Und falls ich noch eine Spezialschere brauchen sollte, weiß ich jetzt, wo ich zuerst hingehe.
Scheren- und Messerstand
Markt auf dem Winterfeldtplatz, Berlin-Schöneberg
Update November 2013: Der Messerstand scheint Samstags nicht mehr auf dem Markt zu sein, so der Hinweis eines Lesers/einer Leserin (Danke!). Als Alternative schlägt er/sie die Schleiferei Kölle in Schöneberg in der Rosenheimer Str. 5/ Ecke Eisenacher Str. vor. Habe ich selsbt nicht getestet, gebe es aber einfach mal weiter.
Haltestelle: Nollendorfplatz (U1, U2, U3, U4)