Freitag, 26. Januar 2018

Sternenkriege auf Hawaii (Burda 7/2000)


In den letzten Monaten des letzten Jahres hattee ich - von Patchwork abgesehen - wenig genäht. So wenig, dass ich im Dezember, nach Kilometern runtergeratterter gerader Nähte, schon Zweifel hatte, ob ich überhaupt noch in der Lage wäre, jemals wieder ein Kleidungsstück zu nähen. Ich brauchte ganz klar eine Nähpause, und die gönnte ich mir.

Nur, dass ich auch noch ein genähtes Weihnachtsgeschenk für den Liebsten geplant hatte. Die Idee war mir sowieso ziemlich spät zugefallen - als ich zuhause erwähnt hatte, dass das Stoffgeschäft, in dem ich einmal die Woche arbeite, eine Partie ziemlich coolen Patchworkstoff mit Star-Wars-Motiven geliefert bekommen hatte. Ich sagte nebenher sowas wie "da werden viele Star-Wars-Fans genähte Sachen zu Weihnachten bekommen" und bekam ein halb empörtes "ICH bin auch Star-Wars-Fan!" zurück. Aha. Ich muss zugeben, dass mir diese begeisterte Anhängerschaft in den letzten Jahren nicht aufgefallen war. Zumindest äußerte es sich nicht im Anschaffen von Star-Wars-Devotionalien. Ich beschrieb noch ein bißchen den Stoff, und dass der wirklich auffällig sei, wir redeten eher allgemein darüber, was man daraus nähen könnte, und ich plante schließlich ein Hawaiihemd als Weihnachtsgeschenk, mehr aus Spaß an der Sache, als in der Überzeugung, dass es wirklich angezogen werden würde. 


Mir schien die Hawaiihemdform, also ein gerades Hemd mit geradem Saum, ohne Unterteilungen und mit angeschnittener Knopfleiste, als ideale Schnittform für den Stoff. Bei nur wenigen Schnittteilen wird das Muster  nicht so stark zerschnitten, durch die kurzen Ärmel wirkt das Hemd und damit das Muster nicht so massiv, und man trägt es tendenziell bei über 30 Grad, wenn kleidungstechnisch sowieso schon fast alles egal ist. (Und, weiterer, geheimer Bonus: Diese Schnittform lässt sich auch gut als Pyjamaoberteil tragen - wenn die Fanbegeisterung dann doch nicht so groß sein sollte, mit diesem Muster auf die Straße zu gehen.)


Die Suche nach einem Schnitt war schwieriger, als ich erwartet hatte - bei Burda gibt es nur wenige aktuelle Hemdschnitte, und keinen davon mit dem typischen Umlegekragen eines Hawaiihemds. In einem Heftstapel aus den späten 1990ern und frühern 2000ern, die mir eine nicht mehr nähende Nachbarin überlassen hatte, wurde ich fündig: In Heft 7/2000 gibt es eine ganze Strecke aus großformatigen Blumenstoffen, darunter auch ein Herrenhemd (Schnitt 140). Ich hatte mich schon gefragt, ob ich diese Hefte jemals nutzen werde, was für ein Glück, dass ich sie aufbewahrt hatte!


Nach Ausmessen der Schnittteile und dem Vergleich des Schnitts mit einem passenden Hemd entschied ich mich für Größe 48, auch wenn laut Maßtabelle eher 50 oder 52 in Frage gekommen wären. Kurz vor dem Zuschneiden verließ mich aber der Mut, mich auf meine Messungen zu verlassen, und ich unterteilte das Rückenteil doch noch in eine Passe und ein Unterteil, um beim Unterteil die zwei typischen Oberhemd-Falten für die Bewegungsfreiheit der Schultern einbauen zu können. Auch ein Teil des Vorderteils ist in die Passe eingeflossen, so dass die Schulternaht etwas nach vorne verlegt ist. Die Passe habe ich dann mit einem inneren Passenteil verstürzt, das ist sowieso günstig, um diesen Bereich zu stabilisieren.


Bei der Ansatznaht des Kragens im Rückenteil sieht die Anleitung vor, dass der verstürzte Kragen einfach doppelt liegend an den Halsausschnitt genäht wird, so dass die Nahtzugaben von Halsausschnitt und Kragen von Schulternaht zu Schulternaht sichtbar sind. Ich kann mich nicht erinnern, so eine nicht besonders schöne Verarbeitung schon mal bei einem Hemd gesehen zu haben - normalerweise gibt es für den hinteren Halsausschnitt wenigstens einen kleinen Beleg, damit die Naht verdeckt ist. Mir fiel das Problem natürlich erst mitten im Nähen, am 22. Dezember abends auf, so dass ich kurzerhand einen hellblauen Schrägstreifen über die Naht steppte, der rechts und links unter den Vorderteilbelegen verschwindet. Eine von außen und innen ansehnliche Lösung, aber für das nächste Mal überlege ich mir dann, wie Kragen und Schulterpasse richtig verarbeitet werden, es muss doch eine Möglichkeit geben, alles zu verstürzen.

Damit habe ich schon verraten, dass ich von dem Schnitt wirklich begeistert bin, er ist schnell genäht und vor allem passt er wirklich gut, er hat die genau die richtige Weite für ein leichtes Sommerhemd. Die zusätzlichen  Fältchen im Rückenteil wären nicht unbedingt nötig gewesen, es schadet aber auch nicht, dass sie da sind. Die Schnittdetails sind auf den Fotos durch den Stoff leider nur zu erahnen.

Die Begeisterung für das Hemd war bei dem beschenkten Star-Wars-Fan übrigens eher theoretischer Natur, wie ich es erwartet hatte. Schön genäht ist das Hemd ja, und glücklicherweise hat das Nähen auch großen Spaß gemacht. Angezogen wird es, wenn überhaupt, wahrscheinlich wirklich nur als Pyjamaoberteil. Exaltierte Fan-Kleidung ist nicht die Sache des Liebsten, das hatte ich schon richtig eingeschätzt. Falls ich trotzdem ein Foto vom Hemdbesitzer im Hemd erhaschen kann, werde ich euch das natürlich nicht vorenthalten!

Schnitt: 140 aus Burda 7/2000
Material: Patchworkstoff aus Baumwolle, ca. 1,60 m (bei 1,10 m Stoffbreite), 6 Knöpfe
Änderungen: 
Rückenpasse mit leicht (1,5 cm) nach vorne verlegter Schulternaht abgeteilt und die Passe doppelt verarbeitet. 
Am Ansatz der Passe im unteren Rückenteil zwei Bewegungsfalten eingebaut. Kragenansatznaht hinten mit Schrägband verdeckt.   
Genähte Größe: 48, Schnitt fällt m. E. eher weit aus

Freitag, 19. Januar 2018

Durchnähen von Freitag bis Sonntag: Die fünfte Annäherung in Bielefeld


Am vergangenen Wochenende war ich mal wieder in der Jugendherberge in Bielefeld, bei der Annäherung, dem jährlichen großen Nähtreffen, das schon viele andere Treffen dieser Art inspiriert hat. Das Programm dieses Wochenendes ist immer ganz simpel: Freitag Nachmittag ankommen, Nähmaschine aufbauen, nähen, Abendessen, nähen. Samstag: Nähen, unterbrochen von drei Mahlzeiten. Sonntag: Nähen, unterbrochen von Frühstück und Mittagessen, Abschlusspräsentation, Aufräumen, Abreise. Sonntag Abend zuhause erschöpft, aber glücklich ins Bett fallen. Klingt für Menschen ohne Hobbys sicher seltsam - Nähende wissen, wie himmlisch das ist.

So kann mans ein ganzes Wochenende aushalten

Seit fünf Jahren gibt es dieses Treffen, ich war vier Mal dabei, und es ist mir so wichtig geworden, dass ich alle anderen Termine verschiebe und frühzeitig dafür sorge, dass ich an dem Freitag und Samstag nicht arbeiten muss (und am besten auch am Donnerstag nicht oder nur wenig, um in Ruhe zuschneiden zu können).

Dieses Jahr hatte meine Planung nicht so gut geklappt, ich war bis zum Donnerstag Nachmittag mit Arbeit eingedeckt und merkte erst am Mittwoch, dass mir für mein eigentlich geplantes Nähprojekt noch wichtige Zutaten fehlen, ein langer teilbarer Reißverschluss und Bündchenware. Für beides hätte ich nach Charlottenburg fahren müssen, das war am Donnerstag nicht mehr drin. Den Schnitt hatte ich auch noch nicht zusammengeklebt, denn der Drucker war am Dienstag verstorben. Also entschied ich mich um und sammelte einfach alle Tüten mit halbfertigen Projekten ein, warf passendes Nähgarn, ein Stück Bügeleinlage und das nötigste Nähzubehör neben die Nähmaschine in den Koffer und ging viel zu spät zu Bett.

Blick in die eine Hälfte des Nähraums

Am Freitag kam ich mit einem entsprechenden matschigen Gefühl und ein bißchen gestresst in Bielefeld an, aber damit war ich nicht die einzige. An meiner Tischgruppe mit Chrissys Nähkästchen, Muriel nahtzugabe5cm, der Drehumdiebolzeningenieurin, Marja Katz, Tine Sews und FrauCrafteln  als Nachbarinnen ging es fast allen so, und wir nähten bzw. schnitten an dem Abend ganz schön viel Mist zusammen. Marja schnitt ein Kleidvorderteil zweimal falsch zu und wich dann auf Kinderschlafanzughosen aus, der pinkfarbene Wollstoff von Tine zeigte größere Farbunterschiede, als beim Kauf erkennbar waren, und im allgemeinen wurde mehr geflucht und getrennt als genäht.

Ausnahmsweise Abendessen bei Kerzenschein

Das Abendessen möbelte mich ein bißchen auf, außerdem hatte sich die Jugendherberge eine Überraschung für uns zum fünfjährigen Jubiläum ausgedacht: Wir wurden an weiß eingedeckte Tische in eine Nische des Speisesaals gebeten und bekamen die Vorspeise (Salat, Rote Bete mit Ziegenkäse) bei Kerzenschein am Platz serviert. Das Hauptgericht (Spaghetti Bolognese wie jedes Jahr) holten wir uns wie immer an der Essensausgabe, das Dessert - Pudding in kleinen Schälchen mit Kokosraspeln drauf - wurde wieder serviert, und wie jemand so zutreffend sagte, wurde der Puddig durch diese Präsentation enorm aufgewertet. Ich hätte auch gar nicht gedacht, dass wir als Gruppe dort so beliebt sind, schließlich treiben wir den Stromverbrauch in die Höhe, hinterlassen Stecknadeln im Teppichboden und verschleppen Fäden und Fusseln überall hin.

Für Samstagabend hatten das Organisationsteam (Susi, Miriam, Alexandra) Torte bestellt

Die halbe Nacht, der Samstag und der halbe Sonntag gingen dann schnell vorbei. Wie immer habe ich nur wenige Fotos gemacht, weil das Eintauchen in die Gespräche, das Nähen im Flow, das Aufsaugen von Inspirationen das gar nicht zulässt. Vor allem die Gespräche habe ich sehr genossen. Viele kommen jedes Jahr, und es ist schön, dass man sich so über die Jahre ein bißchen besser kennenlernt, und ich freue mich immer schon vorher, alle wiederzusehen. Ein paar "Neue" sind jedes Mal auch dabei, die aber gar nicht so neu sind, weil man sie durch die Blogs ja schon ein bißchen kennt - die Mischung an interessanten Frauen und interessanten Nähprojekten ist jedes Mal ganz wunderbar. Ich war an dem Wochenende tatsächlich nur einmal für eine halbe Stunde "draußen", im Supermarkt nebenan, um fünf Tüten Kartoffelchips für den Samstagabend zu kaufen!

"Lora" aus La Maison Victor ist fertig geworden

Über meine Nähprojekte bei der Annäherung schreibe ich später jeweils noch mal ausführlich. Ich nähte das Weihnachtskleid, Lora aus La Maison Victor zuende, was viel länger dauerte, als angenommen, weil ich das Kleid erst noch einmal auseinandernehmen musste. Eine Bluse mit doppelten Volantärmeln (Schnitt aus Burdastyle 10/2017) säumte ich endlich, ebenso zwei ansonsten fertige T-Shirts, und mit dem Futter des Anna-Dress aus selbstgebatiktem Stoff kam ich auch ein bißchen weiter. Alles in allem ein sehr erfolgreiches und schönes Wochenende!

Die Bluse aus Burdastyle 10/2017 ist endlich gesäumt

Nähwochenenden kann ich also mehr als empfehlen. Die Annäherung in Bielefeld ist eigentlich immer schon voll (obwohl es sich, da Erkältungszeit, durchaus lohnt, sich auf die Warteliste setzten zu lassen). Alexandra - Mamamachtsachen, eine der Bielefeld-Organisatorinnen, organisiert aber auch noch andere Nähreisen, dieses Jahr Anfang März ein Nähwochenende in Scharbeutz an der Ostsee und im September ein Nähwochenende in Würzburg. Die Termine und Anmeldemöglichkeiten findet man hier, und hier steht nochmal etwas Genaueres über das Programm (im wesentlichen: Nähen, nähen, nähen) des Ostseewochenendes. 

Die Nähpläne der Mitnäherinnen

Die Idee der Annäherung haben auch einige andere Anbieterinnen von Nähreisen aufgenommen: Die Nähcamp-Tour von Elke - Ellepuls macht in Hotels in allen größeren Städten Halt, neben einem Nähplatz gibt es auch Workshops und am Samstag eine fachkundige Nähhelferin vor Ort - die Informationen findet man hier.

Nina vom Blog Hedi näht organisiert Nähwochenenden in Jugendherbergen im Norden Deutschlands, bzw. sie lässt durch das Jugendherbergswerk organisieren, denn sie ist bei den meisten Treffen gar nicht mehr dabei - wie auch immer, die Termine findet man hier auf der Seite des Deutschen Jugendherbergswerks. 

Sicher gibt es noch viele andere Wochenendtreffen, mal kommerzieller, mal weniger kommerziell. Am Starnberger See wurde am vergangenen Wochenende auch gemeinsam genäht, darüber stolperte ich aus Zufall. Die Organisatorin ist Melanie - The flying needle, und soweit ich gehört habe, soll dieses Treffen wiederholt werden.

Donnerstag, 11. Januar 2018

Anna Sui im Fashion and Textile Museum in London


Bei meinem Londonbesuch im September konnte ich nicht nur die Balenciaga-Ausstellung im V&A besuchen, sondern an einem der letzten Tage auch die Schau über Anna Sui im Fashion and Textile Museum. Aus Begeisterung habe ich eine Menge fotografiert (was dort wie im V&A erlaubt ist), die Üppigkeit dieser Ausstellung und der Detailreichtum der Mode von Anna Sui lassen sich aber auch  durch noch so viele Fotos nicht einfangen. 


Das Museum hatte eine überwältigende Zahl von Outfits zusammengetragen, und man hätte Stunden damit verbringen können, die Details zu studieren. Das Aufeinandertreffen von Mustern, Farben und Materialien aus ganz verschiedenen Kontexten, die schließlich aber doch unglaublich gut zusammenpassen, ist faszinierend - wie auf dem Foto oben die Bastfransen an Kragen und Taschenpatten der Jacke aus Jacquard, und darunter eine Bluse mit Jugendstilmuster.

Die Entwürfe von Anna Sui sind sehr weit weg von dem Stil, den ich selbst tragen würde, und einmal mehr habe ich bedauert, dass mir bohèmehafte Flohmarktmode und Exotisches überhaupt nicht stehen - es würde so großen Spaß machen, in diesem Stil zu nähen und auf Materialjagd zu gehen.  


Außerdem beneide ich Designer um die Möglichkeit, Feinstrickpullover und -jacken in speziellen Farben und Schnitten in Auftrag geben zu können - wäre ein Strickwarengenerator nicht mal ein Projekt für ein Start-up?

Die Zusammenstellung vom Foto oben hat mir besonders gut gefallen: Die Jacke hätte ich gerne, sie sah nach schönem, hochwertigem Strick aus, und die taillierte Form und die umlaufende schwarz-weiß-melierte Blende ist toll. Und wie geschickt der Kunstfellschal das Schwarz-Weiß-Melierte der Jacke aufnimmt, und wie dieser Ton im Muster des Jerseyrocks wiederkehrt, dessen Violett im Oberteil wieder auftaucht!


Im Hauptraum der Ausstellung waren die Kleiderpuppen nach Stilelementen gruppiert - in der Gruppe oben war das verbindende Element der Punk.


Hier unten ist vorne das Thema "Victorian" mit Blick auf "Schoolgirl" und "Retro". Anna Sui fing, wie so viele von uns, als Jugendliche an zu nähen. Sie arbeitete Sachen vom Flohmarkt für sich um, änderte und kombinierte sie neu. Dieses Sammeln, Entdecken, Bekanntes neu sehen und in einen anderen Kontext stellen, ist immer noch das Prinzip ihrer Arbeit. Der Kontrast zu Balenciaga, dem akribischen Schnitt-Tüftler, der am liebsten Kleidung ohne jede aufgesetzte Verzierung entwarf, könnte nicht größer sein.


Man kann trotzdem nicht sagen, dass das Schneiderhandwerk für Anna Sui unwichtig wäre und dass sie, wie es im deutschen Wikpedia-Artikel heißt, "auf Luxus und kostbare Stoffe" keinen besonderen Wert legen würde, den Eindruck habe ich in der Ausstellung nicht gehabt. Ihre Sachen unterscheiden sich in der Materialqualität schon sehr von dem, was man im exotischen Hippie-Stil von der Stange kaufen kann. Seiden-Pannesamt, Seidenchiffon, Crêpe de Chine, feine Wollstoffe sind ihre Materialien. Sehr viele Teile sind mit üppigen Perlenstickereien verziert, wie das exotische Hängerkleid oben (der Untergrund ist Dupionseide, wenn ich mich richtig erinnere).


Die Zusammenstellung oben, die mich jetzt auf dem Foto fatalerweise an die Love-Parade-Outfits der späteren Neunziger erinnert, wirkte in der Ausstellung ganz anders - dort sah man nämlich, wie hochwertig der karierte Wollstoff des Rocks ist, der möglicherweise extra für Anna Sui gewebt wurde, denn das Rot und Gelb der Wollblüten passt exakt zum Rot und Gelb der Karos.

Ein bißchen mehr über die Herstellung der Kleider hätte ich in der Ausstellung trotzdem gerne erfahren. Der Designprozess scheint bei Anna Sui so abzulaufen, dass sie von Moodboards ausgeht und zunächst Bilder (oft aus Modemagazinen der 50er, 60er und 70er Jahre), Stoffe, Materialproben, Farbkarten, Stoffmusterskizzen anhäuft, aus denen sie dann die Modelle entwickelt. In der oberen Etage konnte man einige dieser Boards sehen, und man erfuhr auch, dass sie bei Schuhen und Schmuck seit Jahren mit anderen Designern zusammenarbeitet. Wie aus einer Modellskizze, einer Idee, dann aber ein Kleid erschaffen wird, wer das alles umsetzt, das bleibt leider ziemlich nebulös. Ist erst der (Muster-)stoff da, und dann die Idee? Oder wird eine Kollektion zusammenpassender Stoffe vorab in Auftrag gegeben? Wo und von wem werden die Stickereien produziert?


Anna Sui stellt keine Haute Couture her, sondern letztlich "nur" Mode von der Stange, aber diese Abendjacke zum Beispiel war einfach fantastisch und in der Qualität des Stoffes (schwarzer Seidensamt) und der Handarbeit - Art-Déco-Motive aus silbernen Perlen, Pailetten und Spiegeln, Perlenfransen - durchaus auf Haute-Couture-Niveau.


Hier bei dieser Gruppe zum Thema "Retro" sieht man auch noch einmal gut, wie Anna Sui arbeitet: Die Kleidungssilhouette der 1930er Jahre nimmt sie, inklusive der schräg auf dem Vorderkopf getragenen Hüte, ziemlich originalgetreu auf. Der Bruch, der die Modelle zu Kleidern von heute macht - und das habe ich leider nicht im Detail fotografiert - liegt in der Zusammenstellung mit den Accessoires: Mal ein schwarzes Nietenarmband, mal ein Ledergürtel, mal sind es Lurex-Glitzersöckchen in Pink.


Hier bei dem Bild aus der Abteilung "Rockstar and Hippie" sieht man auch ein bißchen von der Ausstellungsarchitektur: Sie orientierte sich an der Einrichtung der ersten Boutique des Labels Anna Sui in New York 1992. Der Laden war mit glänzend schwarz lackierten, verschnörkelten Jahrhundertwendemöbeln eingerichtet, mit Tiffanylampen und schwarz-weißen Tapeten.

Den breiten Stoffgürtel habe ich wegen der Wollstickerei fotografiert. Und wieder kann man beobachten, wie bestimmte Farben und Formen in allen Bestandteilen des Outfits wiederkehren, so dass die Einzelteile einerseits ganz verschieden sind, andererseits aber doch wie aus einem Guss. 

Diese Zusammenstellung hat mir besonders gut gefallen (und wäre für mich im Sommer sogar tragbar): Ein weißes Batistkleid mit roter Stickerei und eine kurze Jacke aus grobfädigem rotem Leinen mit weißer Perlenstickerei. Die großen, facettierten weißen Perlen waren etwas ganz Besonderes, sie wirkten wie Jettperlen, aber eben in Weiß und nicht in Schwarz, möglicherweise waren sie nicht aus Glas, sondern aus einer Art Plastik.


Links sieht man ein Stück von einem Moddboard - und von der Jacke rechts, zusammen mit dem Kleid, war ich ganz hin und weg. Ich musste mir sehr streng sagen, dass ich eine Lederjacke mit Fransen und Vogelapplikation sowieso unmöglich tragen kann, um mich loszureißen.

Neben dieser Vitrine mit dem Kleid konnte man durch eine Glaswand in den lichtdurchfluteten Workshopraum des Museums sehen, in dem gerade eine Gruppe mit Stoffen hantierte. Auch da hätte ich mich am liebsten dazugesellt, und ich plane (und spare!) schon für die nächste Londonreise. Falls ihr nach London reisen könnt, schaut vorher nach, was für Ausstellungen gerade im Fashion and Textile Museum angekündigt sind, das Museum ist auf jeden Fall einen Besuch wert. Da es ein eher kleines, nicht-staatliches Museum ist, gibt es keine Dauerausstellung, sondern wechselnde Sonderausstellungen, die etwa drei Monate laufen, dann ist das Museum etwa 14 Tage für den Aufbau der nächsten Ausstellung geschlossen, darauf sollte man seine Reisedaten abstimmen.


Die Bermondsey Street und die Gegend um das Museum herum sind übrigens auch ganz interessant. Das Viertel war einmal ein Zentrum der Lederproduktion und des Lederhandels, wie man an Straßennamen wie Leathermarket St., Morocco St. (Maroquinleder) und Tanner St. (Gerber) ablesen kann. Die großen Fabrikgebäude und Lagerhäuser beherbergen heute Galerien, Läden, schicke Büroflächen oder Wohnungen  - zum Teil mit Dachgärten, wie man sieht, und an jeder zweiten Ecke werden gerade leerstehende Lagerhäuser in noch mehr teure Wohnungen umgewandelt. Das Viertel macht den Eindruck, als hätte es sich in den letzten Jahren rasant verändert, von total heruntergekommen zu superschick, als Berlinbewohnerin kennt man die Anzeichen ja sehr gut.


Ein bißchen rauher ist es noch ein Stück weiter Richtung London Bridge (aber die Hauptstraßen mit viel Verkehr werden sowieso nie so schick, auch das kennt man aus Berlin). Ich war sehr gespannt, The Shard zu sehen, das Hochhaus von Renzo Piano, das es noch nicht gab, als ich das letzte Mal in London war. Wenn man in Southwark unterwegs ist, ist der Turm fast überall zu sehen oder taucht auf einmal überraschend in der Straßenflucht auf, besonders schön in der Dämmerung oder bei Nacht, wenn sich am Horizont eine dunstverschleierte, von innen heraus leuchtende Pyramide erhebt. Der Kontrast ist manchmal extrem, weil es in Southwark einige kleine Straßen mit kleinen, oft nur zweistöckigen Häusern gibt. Ich kann einerseits die Kritik gut nachvollziehen, die dieser überdimensionierte Turm auf sich gezogen hat, aber ich bewundere andererseits die Kühnheit des Entwurfs und auch, dass sowas tatsächlich genehmigt, finanziert und gebaut wird.


Ein Tipp noch, falls ihr das Modemuseum besucht, und danach noch etwas essen wollt: Das Café im Museum ist nett, aber nicht weit entfernt ist der Borough Market, der einer der besten Lebensmittelmärkte in London sein soll. Der Markt besteht aus mehreren verwinkelten Hallen, zum Teil unter einer Bahntrasse, und dort gibt es auch eine Menge Stände, an denen man etwas essen kann und einen glasüberdachten Bereich, in dem man sich hinsetzen kann. Sonntags ist der Markt geschlossen, Montag und Dienstag ist nur ein Teil der Stände geöffnet, Mittwoch bis Samstag sind die Haupttage. Da findet man auf jeden Fall etwas, und es gibt auch viel zu schauen und zu entdecken. Sogar einen deutschen Stand - mit Thüringer Bratwurst, Bautzner Senf, Kühne Rotkohl im Glas, Apfelmus und sauren Gurken aus dem Spreewald - habe ich gesehen.