Dienstag, 16. November 2010
Kirchenbasar
Der Gang zum Kirchenbasar eine Straße weiter ähnelt jedes Jahr einer Rettungsexpedition: Gibt es textile Schätze, die unbedingt meiner Hilfe bedürfen? Verwaiste Taschentücher, Leinen, altes Nähzubehör, Bücher oder gar eine Nähmaschine? Und jedes Mal stürzt mich der Basar in Qualen der Unentschlossenheit, denn natürlich würde ich am liebsten fast alles mitnehmen - kann man denn wissen, ob es die Dinge woanders so gut haben werden, wie bei mir? Die Lagerkapazitäten zuhause sprechen leider dagegen, also heißt es auswählen.
Letztes Jahr ließ ich eine schicke weiß-türkise "Adlerette" Koffernähmaschine zunächst zurück, um zuhause eine schnelle Recherche nach dem Maschinentyp anzustellen - der ergab, dass dieses Fabrikat aus den sechziger Jahren unweigerlich Risse in einigen Plastikzahnrädern bekommt, für die es keine Ersatzteile mehr gibt. Puh, da konnte ich die Maschine guten Gewissens stehen lassen. Dieses Jahr entschied ich mich gegen einen großen Stapel Handarbeitshefte vom Leipziger Verlag für die Frau - ich kann mich ja nicht um alles kümmern - aber überlegte zuhause noch stundenlang, ob ich die Hefte nicht doch noch kaufen sollte.
Mitgekommen sind dafür alte Häkelnadeln - in der großen Hülle aus Holz steckt auch eine ganz feine Häkelnadel, mit gedrechseltem Griff - zwei Knäuel Mohairgarn, Gesticktes, eine Vase und vor allem drei Ausgaben Pramo ("Praktische Mode") von 1964 und 1965 und ein wunderbares Abendmodeheft, das ich noch einmal genauer vorstellen werde, mit Schnittbögen, gegen die ein japanischer Stadtplan wohl übersichtlich und leicht verständlich wirken würde.
Verglichen mit Burda-Beyer Schnittmusterheften aus der gleichen Zeit, zeigt die Leipziger Pramo tatsächlich eher "praktische" Mode für die berufstätige Frau: Moderate Rocklängen und -weiten, die die Bewegungsfreiheit nicht einschränken, neue "pflegeleichte" Kunstfaserstoffe, moderate Absätze und moderate Frisuren. Die Verwandtschaft einiger Schnitte mit einem Kittel lässt sich nicht immer verleugnen. Die Hose kommt, wie im Westen, nur als Sportbekleidung in Frage. Und auch die Texterei unterscheidet sich nicht sehr von dem, was Frauenzeitschriften bis heute versuchen: Zu den Bildern eine Geschichte zu erzählen und der Leserin einen Kontext zu bieten, mit dem sie sich identifizieren oder in den sie sich zumindest hineinträumen kann.
Zum Beispiel Pramo 9/1964:
"Sabine vertritt die Frau im öffentlichen Leben, für die ein gepflegtes Äußeres eine unbedingte Notwendigkeit ist. Sie "betätigt" sich hier in einem der vorbildlich eingerichteten Büroräume der Leipziger Oper und stellt dabei auf charmante Art kleine Tageskleider in das Blickfeld der Kamera."
Wer wünscht sich da nicht auch, in solchen vorbildlich eingerichteten Büroräumen arbeiten zu dürfen?
5 Kommentare:
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Hehe, ich setz dich dann mal auf die Liste derjenigen, die bei mir Nachlasspfleger werden dürfen. Die Hefte hätte ich wahrscheinlich auch noch mitgenommen. Vor einigen Jahren bin ich mal in einen Gemeinderaum voller nicht verkaufter Basarspenden geraten - das sollte dann alles in den Müll. Da war damals so ein richtig alter Rollstuhl mit Leder etc, den hätte ich fast mitgenommen.
AntwortenLöschenNaja, zum Glück hat wenigstens die Häkelnadel ein neues Zuhause bei dir.
Der Text ist super - sie "betätigt" sich? :)
AntwortenLöschenDiesen Kaufwahn kenne ich auch. Gerade was alte Schnittmuster und Handarbeitsbücher betrifft. Das blau bestickte Tuch gefällt mir auch sehr.
Na ja, ich geh mich jetzt mal in einem vorbildlich eingerichteten Büroraum "betätigen"...
Vielen Dank für den schönen Text.
ach ich wär auch gern mal ne sabine...
AntwortenLöschenimmmer praktisch und ordentlich gekleidet...
das wär schön !
Ich glaube du brauchst eine größere Wohnung. Ich erzähle lieber nicht, was im Haus vom Schwiegervater dann doch noch alles in den Müll ging.
AntwortenLöschenIch will auch so einen Kirchenbasar in meiner Nähe - schmoll !!! Wenn man hier Glück hat, wird man alle drei jahre auf dem Flohmarkt mal fündig ! Glückwunsch zu deiner Beute :-)
AntwortenLöschenLG Eva