Um Vernunft versus Gefühl, "Kopfnähen" versus "Herznähen", kreisten in den vergangenen Wochen einige Nähblogs: Mamamachtsachen plädierte für Kopf- und Herznähen, Zuzsa schrieb über das Nähblog als Spielwiese, Meike über Veränderungen und La Couseuse dachte unter anderem über Nähnerd-Mode im Vergleich zur Fußgängerzonenmode nach.
Ich finde solche Diskussionen sehr spannend. Man merkt: Beim Nähen gehts den Meisten eben nicht nur um Kleidung in materieller Hinsicht, um Stoff, Garn, Kurzwaren und um Verarbeitungstechniken, die gemeinsam ein Kleidungsstück ergeben. Es geht genauso um die Gefühle, Assoziationen und sozialen Codes, die mit Kleidung verknüpft sind. Um die geht es beim Anziehen ja tagtäglich - auch wenn das Vielen sicher nicht bewusst ist - aber mir scheint, wir Selbermacherinnen haben darauf viel unmittelbarer Zugriff, als die Kleidungskäuferin, die nehmen muss, was in den Geschäften angeboten wird, wir denken zwangsläufig darüber nach, weil ein Kleidungsstück von uns aus Material und Schnitt von Grund auf erdacht werden muss, ehe es Realität werden kann.
Die Welt der Bekleidungsmöglichkeiten, die sich auftut, sobald man einigermaßen die Grundtechniken des Nähens beherrscht, die kann einen schon schwindelig machen. Wenn man begreift, dass es letztlich nur eine Frage des Aufwands, der Entschlossenheit und der Hingabe ist, sich jeden Kleidungswunsch zu erfüllen, dann setzen Nähnerd-Allmachtsphantasien ein, die ab und an durch ein verkorkstes Teil wieder zurückgestutzt werden. Aber das Dazulernen und dass bei diesem Lernen kein Ende in Sicht ist, dass es immer wieder neue Materialien, Techniken, Nähideen und Verfeinerungen geben wird, die ich noch nicht ausprobiert habe, macht für mich schon seit den ersten Nähten den größten Reiz des Hobbys Nähen aus.
Das Entdecken der Nähblogs, erst der englischsprachigen als Leserin, dann die Vernetzung in der deutschsprachigen Nähblogosphäre, veränderte aber für mich noch einmal die Qualität meines Nähens. Bevor es Blogs gab, wurschtelte ich halt vor mich hin, nähte mal einen Schnitt von Burda, mal einen von Brigitte und war damit nicht unzufrieden. Natürlich war das Nähen in vor-Blog-Zeiten auch schon ein kreativer Prozess, ich nähte nie ein Modell aus einer Zeitschrift 1:1 nach. Aber erst durch die Blogs wurden mir die unglaublichen Möglichkeiten richtig bewusst. Den einfallsreichen Umgang anderer Selbermacherinnen mit Stoffen und Schnitten zu beobachten, gibt für mich den Anstoß, beim Nähen mal etwas anderes als das Gewohnte auszuprobieren, und zwar ganz anders, als das die durchinszenierten Serviervorschläge in Schnittmusterzeitschriften leisten können.
Bei so einer Stilvielfalt und so viel herumschwirrenden Ideen stellt sich eher das Problem, sich in dieser Fülle der Möglichkeiten nicht vollkommen zu verzetteln. 2009 schrieb ich hier im Blog schon mal über mein Nähnotizbuch, ein Büchlein in Postkartengröße, das ich immer mit mir herumtrage, so dass Stoff- und Schnittideen, schöne Details an Kaufkleidung in Schaufenstern oder auf der Straße, Stoffeinkäufe und Nähpläne sofort notiert werden können. Ich habe noch immer solche Notizbücher, und für mich haben sie sich sehr bewährt.
Besonders interessant finde ich die Entwicklung von Ideen, die sich in den Notizen nachverfolgen lässt: Manche Stoffe waren im Notizbuch schon drei, vier verschiedenen Schnitten zugedacht und sind bis heute nicht verarbeitet worden. Andere Ideen hingegen werden von der ersten Skizze über konkrete Planung und einen gezielten Stoffkauf schnell und konsequent umgesetzt. Für manche Ideen ist die passende Jahreszeit schon vorbei, wenn sie notiert werden, und wenn ich sie im nächsten Winter oder Sommer wieder aufblättere frage ich mich manchmal, was ich mir dabei bloß gedacht haben könnte? Manches hat sich schon nach kurzer Zeit überholt, anderes finde ich auch noch nach Jahren gut.
Es ist lustig - und zugleich ein bisschen entlarvend - sich selbst in den Notizbüchern bei der Meinungsänderung zugucken zu können. Noch vor ein paar Monaten hätte ich zum Beispiel jeden Gedanken an einen Jumpsuit weit, sehr weit von mir gewiesen. Jetzt machen mich die Jumpsuits von Nina und Sybille ganz wuschig (hier und hier und hier), und der von Nastjusha sowieso(hier), und ich bin gespannt, wo das noch enden wird.
Als Näh-Typ würde ich mich letztlich weder als reine "Kopfnäherin", noch als "Herznäherin" bezeichnen, oder genauer gesagt: Ähnlich wie Mamamachtsachen argumentierte, sehe ich dort keinen Widerspruch. Ich nähe grundsätzlich nur Sachen, die mir gerade Spaß machen - es ist schließlich mein Hobby. Gleichzeitig bin ich vielleicht so phantasielos - oder man könnte auch positiv formulieren: so pragmatisch - dass ich nur Dinge nähen möchte, für die ich eine Verwendung habe. Da ich die meiste Zeit tragen kann, was ich möchte, sind das eine ganze Menge Dinge, und da die meisten Nähideen schon einige Zeit im Notizbuch ablagern konnten, sind sie meistens auch gut durchdacht und passen ganz gut zu mir und in meinen Kleiderschrank. Spontane Nähflashs, die alles Geplante über den Haufen werfen, gestehe ich mir aber trotzdem zu, und auch mein derzeitiges Interesse an Alltagskleidung muss nicht für immer sein: Wer weiß, wenn mir das eines Tages langweilig wird, nähe ich vielleicht als nächstes Kleider des 18. Jahrhunderts mit der Hand. Mal sehen, was in den nächsten Jahren noch kommt, ich lasse mich einfach von mir selbst überraschen.
Freitag, 28. August 2015
14 Kommentare:
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Ein sehr schöner Text, gefällt mir sehr und ich stimme dir in allen Punkten zu. Meine durchschnittliche Alltagskleidung schaut wenig nach Herznähen aus aber ich bin so und es ist mir eine Herzenssache meinen Alltag genau so bekleidet zu verbringen. Entwicklungen in alle Richtungen lasse ich mir offen und wenn ich als Oma pinkfarbene Kostüme mit passendem Hut tragen will, dann wird so sein. Bei mir befindet sich aktuell immer noch eine Culotte in der Ja, Nein, Vielleicht Gedankenschleife.
AntwortenLöschenViele Grüße
Sylvia
Jetzt wo du das sagst, wird es mir selbst noch mal klar: "Herznähen" muss ja nicht zwangsläufig wild, aufregend und exotisch sein. Man assoziiert das fast automatisch: Seidenkleid mit appliziertem Eichhörnchenfell nähen: toll, Herznähen - schwarzes Jerseykleid: ach wie langweilig, Kopfnähen. Aber im grunde hat man ja viel mehr Alltag als besondere Anlässe, und man hat eigentlich am meisten davon, wenn man Tag für Tag gut und nach den eigenen Vorstellungen schön gekleidet sein kann.
Löschen(PS: Die Culotte solltest du testen - in schwarz ist die meiner Meinung nach so universell tragbar wie eine Marlenehose).
Ich danke dir, das Stichwort Marlenehose hat gerade einen Knoten gelöst.
LöschenAch du, ich finde mich da sowas von wieder. Z.B. hat auch bei die Entdeckung von Nähblog soviel verändert, erweitert und meine kombiniertes Kopf-und Herz-Näh-ich denkt gerade viel über Stiländerungen nach, zumindest partiell.....
AntwortenLöschenHerzliche Grüße
Sabine
Die Stiländerungen scheinen gerade in der Luft zu liegen!
LöschenDa ich die Welt der Nähblogs gerade erst entdecke, ist das vielleicht ein Blick in meine Nähzukunft?
AntwortenLöschenToller Text, da hat das Lesen Spaß gemacht!
Danke! Und pass auf, wohin du noch gerätst, wenn du Nähblogs liest - auf einmal bist du auch so ein Nerd.
LöschenSchön geschrieben! Nähen ist viel mehr als das Nähen von Kleidung - der Aufwand bis zum fertigen Kleidungsstück ist viel grösser, als einfach mal schnell zu shoppen. Und deshalb überlegen wir uns wohl auch oft etwas genauer, was wir nähen wollen, wer wir sein wollen.
AntwortenLöschenIch finde es schön, von der Nähblogger-Community stets neu inspiriert zu werden und über den gängigen Scfhnitt-Telllerrand hinauszuschauen. Und bin übrigens immer wieder fasziniert - wie du mit den Jumpsuits antönst - wie schnell sich unser Auge doch an Trends gewöhnt, die uns vorher noch unmöglich erscheinen konnten. Ich bin da nur unglaublich langsam, vielleicht, weil auf dem Land viele Leute NOCH mit 80er/90er Kleidern herumlaufen, nicht WIEDER. Verschiebt das Ganze ein wenig :)
Haha, ja, man muss einfach lange genug abwarten, dann ist die alte Mode wieder die neue Mode. Hier gibt es auch so ein paar Ur-Berliner, deren Bärte, Brillen und Frisuren auf einmal wieder hip sind.
LöschenJa, wirklich schön geschrieben. Mit deinem Text sprichst du aus was ich denke, jedenfalls in den Absätzen 3,4,5 und 6! Mir geht das ganz genau so! Hab u.A.. auch ein To-Do-BUCH in dem ich regelmäßig alle meine Nähpläne usw. notiere.
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Immi
Du sprichst mir aus dem Herzen. Bei mir ist allerdings die Wunsch-Liste immer länger, als die verfügbare Zeit. Mein TO-DO-Buch sind die herauskopierten Schnittübersichten meiner Nähzeitschriften, in denen ich die interessanten Modelle mit einem Textmarker einkringele. Ich weiß nicht, ob ich mich als Kopf- oder Herznäherin einordnen würde, vermutlich am ehesten Kopf mit Herz, also Kleiddung, die ich lieben kann und nicht nur brauche, um mich warm zu bedecken.
AntwortenLöschenLiebe Grüße, Stefanie
Ja, das Ungleichgewicht zwischen Plänen und Zeit zur Verwirklichung habe ich auch - wobei es dann oft auch ganz gut ist, Pläne ein bißchen ablagern zu lassen, manches hat sich dann von selbst erledigt.
LöschenIm Interesse der historischen Forschung hoffe ich mal, dass dir ganz bald langweilig wird :)
AntwortenLöschenNähnerd-Allmachtsfantasien... Du meinst wohl mein goldbesticktes Samtkleid...
AntwortenLöschenIch habe durch das Nähen erst die Möglichkeit gefunden meinen Stil zu tragen, statt frustriert durch die Läden zu tingeln. Aber der eigene Stil ist doch auch offen genug für Jumpsuits..