Wusstet ihr, dass Berlin in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein Zentrum der Bekleidungsindustrie war? Dass Mode aus Berlin in alle Welt exportiert wurde? Ich muss zugeben, dass ich das erst weiß, seitdem ich einmal mehr oder weniger zufällig in der Gegend des Hausvogteiplatzes unterwegs war und das Denkmal in der Mitte des Platzes - drei geneigte Spiegel, die die umliegenden Häuser reflektieren - wahrnahm und auch, dass an den Stufen hinunter zur U-Bahn-Station lauter Firmennamen eingemeißelt sind.
Heute sind der Hausvogteiplatz und die umliegenden Straßen ein merkwürdiges, etwas steriles Niemandsland mit Bürogebäuden, der Botschaft der Mongolei, dem Justizministerium, einem Teil der Humboldt-Uni und Neubauten mit sehr, sehr teuren Eigentumswohnungen, eine tote Ecke zwischen den Touristenmassen auf dem Gendarmenmarkt und dem Verkehrsinferno auf der Leipziger Straße. Sieht man Bilder der Gegend vom Anfang des vorigen Jahrhunderts, mag man kaum glauben, dass es sich um dieselben Straßen handelt: An den Fassaden Firmenschilder dicht an dicht, in den Erdgeschossen Bekleidungsgeschäfte, auf den Straßen Lieferwagen, Straßenbahnen und je nach Jahrzehnt mehr Autos oder mehr Pferdefuhrwerke, und vor allem ein unglaubliches Gewimmel von Passanten, Lieferanten, Geschäftsleuten, Frauen und Kindern beim Einkaufsbummel. Große Kaufhäuser waren hier, aber seit Mitte des 19. Jahunderts vor allem die Konfektionäre, meistens jüdische Bekleidungsgroßhändler, die sich auf die Produktion von Kleidung "von der Stange" spezialisiert hatten. Diese Idee, fertige Kleidung in einer Reihe von standardisierten Größen günstiger als maßgeschneidert anzubieten, war eine revolutionäre Erfindung, sie machte diese Kleidung für eine größere Gruppe von Frauen überhaupt erst erschwinglich.
Die Ausstellung Brennender Stoff - Burning (t)issue, die von Studierenden der Europäischen Ethnologie der Humboldt-Uni erarbeitet wurde, zeigt derzeit in den Räumen des Justizministeriums, das zum Teil in so einer ehemaligen Textilfabrik untergebracht ist, die Geschichte dieser Konfektionäre rund um den Hausvogteiplatz. Im November wandert die Ausstellung in das Hauptgebäude der Humboldt-Uni und kann dort ohne Anmeldung besichtigt werden. Ich hatte sie mir vor zwei Wochen im Ministerium angeschaut und habe viel mitgenommen.
Mir war zum Beispiel nicht bewusst, dass ein großer Teil der Konfektion in Berlin gar nicht in Fabriken, sondern in Heimarbeit hergestellt wurde - und zwar von einem Heer von Näherinnen, die in 12-Stunden-Arbeitstagen zuhause im Akkord Blusen und Kleider nähten, bügelten, und sich natürlich auch noch um Kinder, Küche, Kirche kümmern mussten. Alte Fotografien aus dem Landesarchiv zeigen die beengten Verhältnisse, ärmliche, enge Wohnzimmer, mit Nähmaschinen und Bergen von lauter identischen fertigen und halbfertigen Kleidungsstücken, dazwischen kleine Kinder.
Die glamouröse Seite der Berliner Mode ist sogar noch besser durch Fotos dokumentiert: In den Kaufhäusern wurden schon damals ganze Erlebnislandschaften geschaffen. Das, was wir heute "Shopping" nennen, das Flanieren durch Geschäfte, das Ansehen und Anfassen der Waren, ohne den Zwang, etwas kaufen zu müssen, nahm damals in den Warenhäusern seinen Anfang. Die Influencerinnen der damaligen Zeit waren Bühnen- und Filmschauspielerinnen, Sportlerinnen und Tänzerinnen.
In den dreißiger Jahren war es dann vorbei mit der Berliner Textilindustrie: Ihre meistens jüdischen Eigentümer wurden enteignet, vertrieben und ermordet, nach dem Krieg lag das Hausvogteiviertel in Schutt und Asche. Die Ausstellung - und das sehr empfehlenswerte Begleitbuch - zeichnen hier die Einteignung einer von vielen jüdischen Firmen nach. Die Berliner Modefirmen, die es jetzt noch gibt, hatten im übrigen kein Interesse, das Ausstellungsprojekt zu unterstützen, wie eine der Ausstellungsmacherinnen erzählte, die uns begleitete. Deutlich wurde auch, dass die Geschichte der Berliner Konfektion bislang nur in den Grundzügen erforscht und allgemein recht wenig bekannt ist. Ich kann daher den Besuch der wirklich interessanten und gut gemachten Ausstellung - gestaltet wurde sie von Studierenden der Kunsthochschule Weißensee - empfehlen. Bis Ende November ist sie kostenlos und ohne Anmeldung im Hauptgebäude der Humboldt-Uni zu sehen, und auch das Begleitbuch zur Ausstellung ist sehr zu empfehlen, es ist angenehm zu lesen und enthält die meisten Fotos, die auch in der Ausstellung zu sehen sind.
https://www.brennender-stoff.info/
Ausstellung ab 3.11. in der HU, Unter den Linden 6
geöffnet Mi-Fr 16-20.00 Uhr, Sa 11-17.00 Uhr
Eintritt frei
außerdem kostenlose Führungen, dazu ist eine Anmeldung nötig
Das Buch zur Ausstellung gibt es im Buchhandel, es liegt in der Ausstellung aus und kann außerdem bei den Führungen erworben werden.
Über die Ausstellung berichteten sehr ausführlich Maritta Tkalec von der Berliner Zeitung, Jérôme Lombard von der Jüdischen Allgemeinen und Katharina Kühn für DeutschlandfunkKultur.
Dienstag, 30. Oktober 2018
22 Kommentare:
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Kann dir 100% zustimmen: eine tolle Ausstellung und ein sehr interessantes Buch. LG Carola
AntwortenLöschenAch wie schön, dass Du die Ausstellung besprichst! Sie steht auf meiner Liste für November, wo man sie ohne Anmeldung besuchen kann. Danke für die Besprechung und die Fotos. LG Manuela
AntwortenLöschenDas musst du dir unbedingt ansehen - ich hoffe in der HU sind die Kleider auch alle mit dabei.
LöschenHey, vielen Dank für den tollen Tipp! Die Ausstellung in der HU ist ja zum Glück den ganzen November lang. Genug Zeit also, das sollte ich schaffen ;-)
AntwortenLöschenLiebe Grüße!
Die Öffnungszeiten sind aber etwas knapp gehalten, hast du gesehen? Aber Samstags ist auch geöffnet. Und ich würde empfehlen, eine der Führungen mitzumachen, die Führungen machen die Studierenden, die die Ausstellung konzipiert haben, die können dann über einzelne Themen noch mehr erzählen.
LöschenKlingt toll - Berlin ist aber leider doch zu weit weg :-) Das mit den Bekleidungshäusern und Fabrikanten wußte ich tatsächlich: In irgendeinem Belletristrik Roman ging es um einen Tuchhändler und da wurde ein Kapitel der Berliner Ecke und Zeit gewidmet. Aber frag mich jetzt nicht, welcher Roman das war... ;-) LG, uta
AntwortenLöschenAus den 1920er und 1930er Jahren gibt es anscheinend eine ganze Reihe Romane, die zumindest zum Teil in der Berliner Modebranche spielen - da kann man sich ja auch schöne Geschichten drumherum ausdenken!
LöschenMerci für den Bericht.
AntwortenLöschenSchön, dass es ein Buch gibt, falls man nicht die Möglichkeit hat, die Ausstellung zu besuchen.
LG von Susanne
Danke für den Artikel....hatte wohl den Artikel in der Berliner Zeitung gesehen....das schaue ich mir an.
AntwortenLöschenViele Grüße
Schurrmurr
In meinen Augen ein längst fälliges Thema! In Weißensse gab es damals eine betagt Lehrerin, die noch etwas erzählen konnte darüber.
AntwortenLöschenIch kann nicht verstehen, dass es keine Unterstützer für dieses Projekt gibt,inszeniert sich Berlin schon länger bei Events als Modestadt.Wahrscheinlich eher das Ergebenis der immer schwierigen finanziellen Situation in der Branche?!
Den Katalog möchte ich mir gern zulegen.
viele Grüße, karen
Der Katalog ist toll - es lohnt sich wirklich, ihn zu kaufen.
LöschenDie Modebranche ist ziemlich geschichtsvergessen, die Zelte für die Modeschauen der Fashion Week standen in den ersten Jahren auf dem Bebelplatz, quasi auf dem Mahnmal für die Bücherverbrennung. Das wurde sehr kritisiert, aber die Organisatoren der Fashion Week haben das so durchgeboxt. Das ist irgendwie symptomatisch.
Es gibt einen Roman und eine Fernsehserie zu dem Thema, lesens und sehenswert:
AntwortenLöschen"Durchreise" von Curt Flatow.
Liebe Grüße
Gabi
Danke, das ist ein toller Tipp! Die Serie gibt es hier in der Stadtbibliothek.
LöschenDanke für deine immer tollen infos. Übrigens liegt dein Stofflexikon in der Frankfurter Ausstellung Hautnah aus. Schön, es dort zu sehen. Lg anjA
AntwortenLöschenDas ist ja klasse! Mal sehen, vielleicht kann mir jemand davon ein Foto liefern, das wäre toll.
LöschenIch hatte kein Gerät dabei. Gehe aber sicher nochmal in die schau, will auch berichten, dann mache ich foto
LöschenDanke Dir für deinen Bericht über die Ausstellung, das war sehr interessant. Bei diesen Gelegenheiten bedauere ich es immer, so weit weg zu wohnen.
AntwortenLöschenLG Friedalene
Hallo Lucy,
AntwortenLöschendie Entfernung von über 600 km ist zu groß, um diese sicher interessante Ausstellung zu besuchen, aber Dank deines Hinweises habe ich mir eben das Buch bestellt.
Unglaublich, was in den letzten 100 Jahren so alles passiert ist...
Liebe Grüße nach Berlin von
Heike
Hallo,
AntwortenLöschenGestern war ich in der Ausstellung...jetzt in der Humboldt Uni....dort ist der Raum quadratisch und ein mit Glas überdeckter Lichthof...es hat mir gut gefallen...die Hängung der Infotafeln auf Ikea Garderobenständern ist witzig. Der Eingang zur Ausstellung ist im Foyer der Uni hinten rechts durch einen Gang.
LG schurrmurr
Danke fürs Nachschauen.
LöschenLeider verschweigt die Ausstellung - und auch der Katalog - wer diejenigen waren, die zwischen 1933-1940 dafür sorgten, das 2 700 juedische Firmen liquidiert und deren Eigentum konfisziert wurde. Die Herausgeberinnen S.Jacobeit und K. Hahn hätten auch diesen Teil aus meinem Buch "Berliner Konfektion und Mode 1836 -1939 - Die Zerstoerung einer Tradition" ab - und umschreiben koennen, wie sie es ja ohnehin mit anderen Kapiteln aus meinem und anderen Buechern taten. Neben allgemeiner Information sind leider keine neuen Recherchen in der Ausstellung oder im Katalog zum Thema zu finden. Das ist geradezu verantwortungslos, denn es werden die Treiber und Profiteure der Enteignungen unter den Modeschoepfern der 30er Jahre verschwiegen, deren Beteiligung an der Beauftragung von Zwangsarbeiterinnen in den Konzentrationslagern. So gut gemeint die Ausstellung auch von den Studenten aus Weissensee ist, nostalgisiert sie letztlich doch den NS Staat, entlaesst diejeneigen aus der Verantwortung, die den Modebetrieb in Berlin von 1948 bis heute bestimmen. Schade drum. PS: wer den Roman zur Mode im NS Staat lesen will, soll mal in meinen Roman: "Ehrenfried & Cohn" schauen, gibt es als ebook bei Amazon.
AntwortenLöschenZumindest die Studentin, die uns durch die Ausstellung begleitet hat, hat auf das Standardwerk von Ihnen verwiesen und auf Ihre große Unterstützung für das Projekt - und auch, dass die Ausstellung lediglich den Forschungsstand zusammenfasst und keine neuen Erkenntnisse liefert. Das kann man, denke ich, von Studierenden im Bachelor auch noch nicht erwarten. Dass sich eine Ausstellung überhaupt des Themas annimmt, finde ich zunächst erstmal begrüßenswert, aber ich stimme Ihnen zu, dass grundsätzlich eine ganz andere Aufarbeitung nötig wäre. Eigentlich wäre das ja ein Thema für die großen Berliner Museen, das Stadtmuseum, das Kunstgewerbemuseum, das DHM.
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