Sonntag, 25. Oktober 2015

Stoffspielerei im Oktober: Ein Versuch in Reticellaspitze


"Spitze" lautet das Thema der Stoffspielerei im Oktober, vorgeschlagen von Karen, die auch heute die Beiträge sammelt. Das Thema fand ich ziemlich schwierig: Spitzen kommen bei meiner Kleidung so gut wie nicht vor und alles andere aus Spitze - Spitzendeckchen, Spitzengardinen, Spitzenwasauchimmer - liegt auch nicht so auf meiner Linie. Wenn man aber keine Ideen hat, kann man immer noch schematisch vorgehen und ein Thema auf verschiedene Arten variieren: Großes miniaturisieren oder Kleines besonders groß machen, ein ungewöhnliches Material verwenden, die Proportionen verändern, Symmetrisches asymmetrisch machen und dergleichen mehr.

Spitze in großem Maßstab und aus einem ungewöhnlichen Material wie Paketschnur kam mir in den Sinn, und gleichzeitig die Anleitungen zur Spitzenherstellung aus "Ich kann handarbeiten" von Mizi Donner und Carl Schnebel von 1913 (Nachdruck 1995 unter dem Titel "Handarbeiten wie zu Großmutters Zeiten"). Dort wird das Herstellen von Nähspitzen beschrieben, einer Spitzentechnik, bei der Fäden als Gerüst des Musters in Form gelegt und mit unterschiedlichen Nähstichen miteinander verbunden werden. Anders als bei Durchbruchspitzen (Hohlsaum oder Hardanger) oder Stickereispitzen (Richelieu, Madeirastickerei, Tüllstickerei) hat die Spitze kein Grundgewebe - die Nähspitze wird allein aus Garnen verschiedener Stärke geformt. Mit der Materialstärke, die normalerweise bei Spitzen zum Einsatz kommt, ist die Technik sehr, sehr langwierig, und ich frage mich doch, wieviele Damen der wohlhabenden Schichten sich um 1913 hinsetzten und auf diese Weise ihre eigene Spitze herstellten. Aus der Zeit sind zwar wunderbare, aufwendige Handarbeiten erhalten - und viele davon hergestellt von Heimarbeiterinnen zu Verkauf, also von Profis - aber vielleicht war es doch im Prinzip wie heute, dass zwar viele Selbermacherinnen so ein  Buch kauften, aber nur wenige die Anleitungen nacharbeiteten?    

Aus dickerem Garn erschien mir so ein Spitzenmotiv aber machbar, und ich machte mich an die Reticellaspitze (S. 237ff.) heran, eine italienische Spitze mit verhältnismäßig einfachen geometrischen Motiven, die laut Donner/Schnebel am Übergang von Durchbrucharbeiten zu freier Nadelspitze steht.


Die Tücken, oder genauer gesagt: Die Lücken der Anleitung wurden wie immer erst beim Machen deutlich. Die Anleitung beschreibt sehr umständlich und nicht besonders klar, wie zunächst die Vorlage für das Gerüst der Spitze auf Pergamentpapier und dann mittels Durchstechen mit einer Ahle entlang der Musterlinien auf ein Stück dunkles Wachstuch zu übertragen ist. Entlang der Musterlinien soll das Wachstuch alle 2 mm perforiert werden, die Löcher im Wachstuch bilden anschließend die Einstichpunkte, wenn die so genannten "Büschel" aus Spitzenzwirn aufgenäht werden. Die "Büschel" sind Stränge aus mehreren dickeren Einzelfäden, mit denen das Muster angelegt wird und die anschließend überstickt werden.

Das perforierte Wachstuch heftet man auf eine Stück Leinen als Arbeitsunterlage. Anfängern wird eine gezeichnete Vorlage auf Stoff empfohlen, die auf das Wachstuch geheftet wird - wie man dabei verhindern will, dass man ständig in das Leinen sticht und die Spitze an der Unterlage festnäht, ist mir aber nicht klargeworden, wahrscheinlich habe ich das nicht richtig verstanden. Da ich kein Wachstuch hatte, habe ich die Vorlage einfach auf Karopapier gezeichnet, wobei mir erst beim übernächsten Schritt klar wurde, dass ich mir das Perforieren hätte sparen können, durch so ein einfaches Schulheftpapier sticht man ja mit der Nähnadel mit Leichtigkeit durch.

Als nächstes wird das Muster nämlich "trassiert", das heißt die Fadenbündel des Spitzengerüsts werden mit Überfangstichen auf der Vorlage festgenäht. Dabei sticht man durch alle Schichten (Vorlage bzw. Wachstuch und Unterlage) durch, diese Stiche werden zum Schluss aufgeschnitten, um die Spitze von der Unterlage abzulösen. Ich habe daher verschiedene Reste bunte Nähseide benutzt, um mein Garn, eine naturfarben melierte Baumwoll-Viskose-Mischung aufzunähen.     


Beim Aufnähen fiel mir auf, dass es in dem Maßstab, in dem ich nähe, gar nicht günstig ist, wenn die Überfangstiche nur 2 mm auseinander liegen. Beim anschließenden Verbinden des Gerüsts mit verschiedenen Füllstichen und Schlingstichen näht man nämlich nicht mehr durch die Unterlage durch, sondern erfasst nur noch die Fäden der "Büschel". Wenn die schon dicht an dicht festgenäht sind, kommt man dazwischen mit dem dickeren Garn gar nicht mehr durch. Die zweite Hälfte der Vorlage habe ich daher etwas großzügiger vorbereitet, und anschließend begonnen, ein Deieck mit dem einfachsten Flächenmuster zu füllen (im Buch das erste Muster oben links). Das Garn ist ein mitteldickes Baumwoll-Häkelgarn, etwa so wie dünneres Perlgarn, aber glatter und feiner gedreht.


Die Stege zwischen den Mustereinheiten werden mit Schlingstichen umstickt. Wie dicht, wie und wo man die Stiche setzt, das ist alles der Erfahrung und dem Geschick der Stickerin überlassen. Für geometrische Formen mit glatten Rändern und mit dickem Garn wie hier ist das nicht besonders schwierig. Im richtigen Maßstab, mit Spitzenzwirn und mit freien Formen wie bei der eigentlichen Nadelspitze, ist diese Handarbeit mit heutigen Geduldsmaßstäben gemessen nicht mehr umsetzbar.


Hier mal etwas vergrößert - das Karopapier ist ein normales Matheheft-5 mm-Karo. So weit bin ich inzwischen gekommen - ich bin neugierig, ab das Motiv zusammenhält, wenn ich es ablöse (und neugierig, ob ich die Geduld aufbringe, es fertigzunähen...).
 
Mit traditioneller Nadelspitze verglichen ist das natürlich grober Kinderkram, was ich hier probiert habe. Die Dentelle d'Alençon, Nadelspitze aus Alençon in der Normandie, ist so ein Beispiel für freie Nadelspitze. In die faszinierende Geschichte dieser Spitze habe ich mich bisher nur oberflächlich hineingelesen. Zu ihrer Hochzeit im 18. Jahrhundert waren acht bis zehn Millionen Arbeiterinnen in der Spitzenindustrie beschäftigt. Heute wird diese Spitzentechnik als immaterielles Kulturerbe weiter gepflegt und es gibt auch ein Museum. Die Ausbildung zur Spitzenstickerin dauert acht Jahre, ein Spitzenstück in Briefmarkengröße erfordert zwischen 7 und 15 Arbeitsstunden. (Quelle für diesen Absatz) Hier in diesem Film werden die zehn Arbeitsschritte der Spitzenherstellung gezeigt (französisch, Spitzenstickerei beginnt bei 3.30).

Die anderen Stoffspielereien zum Thema Spitze finden sich bei Karen, vielen Dank fürs Sammeln!

------------
Die monatliche Stoffspielerei ist eine Aktion für textile Experimente. Sie ist offen für alle, die mit Stoff und Fäden etwas Neues probieren möchten. Der Termin soll Ansporn sein, das monatlich vorgegebene Thema soll inspirieren. Jeden letzten Sonntag im Monat sammeln wir die Links mit den neuen Werken – auch misslungene Versuche sind gern gesehen, zwecks Erfahrungsaustausch.

Der weitere Plan bis Jahresende:
29. November – Thema Folklore (hier im Nahtzugabe-Blog)
27. Dezember – WINTERPAUSE

18 Kommentare:

  1. So was könnte sich auf einem Rückenteil gut machen. Die Papierentfernung ist sicher eine Geduldssache, vielleicht durch direktes Aufzeichnen des Motives umgehbar.
    Moderner wirkt für einen Rückendurchbruch vielleicht auch, wenn der Untergrundstoff offenkantig zum weiter fransen dran bleibt.
    Danke für die Inspiration.
    LG Ute

    AntwortenLöschen
  2. Mutig, dass du so etwas mal angefangen hast.Da bekommt man doch ein Gefühl dafür wie lange es brauchte um größere Stücke zu arbeiten und dass Spitze sehr kostbar war.Etwas "erleichert" wurde Spitzenmachen erst, als man Untergründe hatte, die bestickt werden konnten, da entstanden dann auch noch mal erweiterte Techniken.Aber Nähspitzen, sind wohl die aufwendigsten Spitzen und man kann sie in jeder Größe arbeiten.Vor einer weile sah ich ein Video, wo eine handvoll Frauen auf einem großen Tisch alle gemeinsam an einer Spitze arbeiteten, in Südamerika- leider habe ich es nicht wiedergefunden.
    Vielleicht machst du es irgendwann zu Ende. ich drücke die Duamen.
    Viele Grüße karen

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ja, das ist selbst mit dem dicken Garn langwierig, mit dem feien Zwirn wie in dem Film: Nicht auszudenken. Ich kann mir vor allem nicht vorstellen, diese Abeit stundenlang zu machen - die Frauen, die heute noch in der Manufaktur arbeiten, haben das Spitzen nähen ja wohl als Beruf, mit normalen Arbeitszeiten.

      Löschen
  3. Der Film ist toll, danke fürs Finden!

    AntwortenLöschen
  4. Da bin ich schon aufs fertige Ergebnis gespannt. Der Moment, wenn das Papier wegkommt...
    Lieber Gruß
    Ines

    AntwortenLöschen
  5. DIEse Variante ist zumindest 'transportfaehiger'; d.h. auch unterwegs* zu machen - mM!
    Kloeppelspitze ist diesbzgl. immer 'gepaeckmaessig eine Weltreise' und darum ist mir dann die Schiffchenspitze oder einfache Haekel-/Strick-Spitze lieber.
    Wobei natuerlich wohl jeeede Variante ihre Vor- und Nachteile bzw. sinnvolleren Anwendungen hat.
    Viiielen herzlichen Dank also f. die Einfuehrung auch in DIEse Technik!

    LG, Gerlinde


    * DA liegt mM heutzutage noch immer die Chance der Kombination von ohnehin Zeit ueberbruecken zu muessen und aber gleichzeitig noch/doch kreativ zu sein = so man Smart-phone, oldfashioned Papier-Lesematerial auch mal ignorieren kann/will ;-)

    AntwortenLöschen
  6. Toll dass Du das ausprobiert hast. Nadelspitze steht schon lange auf meiner Liste zum Testen, aber ich finde es sehr schwierig zu lernen und langwierig zu machen. Aber die Designs sind unglaublich schön.
    Herzliche Grüße
    Petra

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ja, es gibt z. B. tolle Jugendstildesigns. Aber als Hobby ist das schlicht Wahnsinn, jedenfalls mit dünnem Garn. Aber es bauen ja ach Leute den Eiffelturm aus Streichhölzern nach, also: warum nicht.

      Löschen
  7. Das ist in der Tat handwerklich reizvoll, toll dass du das auch mal probiert hast.
    Der Weg zum fertigen Teil ist dann wohl das Ziel- es einfach mal probiert zu haben.
    Und der Respekt vor den namenlosen alten Meisterinnen dieser Technik wächst wohl mit jedem Knoten.

    Aber: Es kommt halt trotzdem irgendwas spitzenmäßiger dabei heraus, mit deinen einleitenden Worten hast du ja schon angedeutet was sich daran falsch anfühlt. Mir geht es genauso- Spitzen fallen so grundsätzlich nicht in mein Beuteschema.
    Und dann investiere ich meine Zeit doch eher in eine Technik, die ich dann auch weiterverwenden mag- davon gibt es nämlich schon noch ein paar....

    Ich bin aber sehr gespannt wie es mit dem Teil weitergeht.
    Es wäre auf jeden Fall zu schade für die haushaltsübliche Spitzenaufbewahrungsbox....

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ich mache das auf jeden Fall zuende - viel ist nicht mehr zu nähen. Zu Studienzwecken. Denn es ist tatsächlich so, dass man diese Arbeit viel besser einschätzen kann, wenn man es mal probiert hat. Ich habe eine Menge gelernt dadurch!

      Löschen
  8. Genial die Idee, alles in groß zu machen. So manches Mal hing ich schon über der Nadelspitze in dem Buch und wollte es probieren. Nun hast du schon einen schönen Weg geebnet, da muss man nur noch loslegen. Im Museum von Bayeux war auch viel zu Nadelspitze, da wurde mir klar, dass man wirklich nur Nadel und Garn braucht und überall arbeiten kann (wo gutes LIcht ist).

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Dass es wirklich nur Garn ist, weiter nichts, kein Gewebe, finde ich auch ganz faszinierend an der Technik. Und es sind hinsichtlich der Motive keine Grenzen gesetzt. Sozialkritische Sujets, in freier Nadelspitze gestaltet - vielleicht macht das ja mal eine Textilkünstlerin.

      Löschen
  9. Ambitioniert... Nadelspitze war mir bislang zu viel Arbeit, um es auch nur zu probieren... (In der Enzyklopädie von Therese Dillmont ist das glaube ich auch beschrieben...)

    AntwortenLöschen
  10. Klasse beschrieben!
    erinnert mich an meine Nadelspitze-Versuche, die ich unbedingt mal wiederholen muss.
    LG
    Marle

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Oh, interessant, hast du die Versuche schon mal in deinem Blog gezeigt?

      Löschen
  11. Toll! Allein in der detaillierten Beschreibung der Arbeitsschritte liegt ja schon so viel Arbeit... Und die Idee, die Anleitung aus einem alten Handarbeitsbuch auszuprobieren gefällt mir sehr. Deine genähte Spitze zeigt in groß, was die in Burano früher in winzig klein genäht haben. Danke fürs Zeigen! lg, Gabi

    AntwortenLöschen
  12. Wahnsinn! Das ist ja eine tolle Idee. Spitze aus Paketschnur!!! Echt super!
    Ich habe da einen riesen Respekt davor und kann es selbst (natürlich) nicht. Großes Kompliment!
    Liebe Grüße
    Charlie

    AntwortenLöschen
  13. Wahnsinn, dass du die Geduld unnd den ehrgeiz ahst, diese Technik auszuprobieren und auch weiter zuverfolgen. Bin gespannt, wie es weiter geht. LG Ute

    AntwortenLöschen

Vielen Dank für deinen Kommentar!
Mit Abschicken des Kommentars erklärst du dich einverstanden, dass deine Angaben zu Name, Email, ggf. Homepage und die Nachricht selber gespeichert werden. Kommentare können auch anonym verfasst werden. Blogspot erfasst außerdem die IP-Adresse sowie Datum und Uhrzeit des Kommentars.
Der Kommentar kann jederzeit wieder gelöscht werden oder du kannst ihn durch mich entfernen lassen.
Mit dem Absenden deines Kommentars bestätigst du, dass du meine Datenschutzerklärung sowie die Datenschutzerklärung von Google gelesen hast und sie akzeptierst.
Ich behalte mir vor, Kommentare zu löschen, wenn sie Werbung oder Links zu Spam-Seiten u. ä. enthalten.