Warum wird ein Schnittmuster erfolgreich? Wer Nähblogs verfolgt, dem ist sicher das Phänomen der Lemming-Schnitte nicht entgangen. Ein Schnittmuster wird von einer Bloggerin „entdeckt“, genäht, gezeigt, die Begeisterung ist groß, der Schnitt taucht landauf, landab in den Blogs in immer mehr Varianten auf, was noch mehr Verlangen erzeugt, bis die lemminghafte Begeisterung irgendwann abflaut, weil nun wirklich jede halbwegs vernetzte Selbermacherin den Schnitt schon umgesetzt hat, oder weil das nächste, noch begehrenswertere Schnittmuster den Plan betritt.
Butterick 5951 war so ein Fall, davor war es das
Knip-Kleid 17 mit den gewickelten Bändern, das schräg geschnittene
Wasserfallkleid aus Burda 10/2012, davor das
Jersey-Knotenkleid Onion 2022, davor gab es Wellen der Römö- und Amy-Begeisterung, ganz zu schweigen von den Kinderkleidungsmoden, mit denen alles anfing.
Welche Voraussetzungen muss ein Schnittmuster erfüllen, um den typischen Lemming-Sog auszulösen? Mir scheint, der Schnitt darf zum einen nicht allzu kompliziert sein. Ein Hemdblusenkleid mit zehn, zwölf oder mehr Schnittteilen hat nur geringe Chancen im Beliebtheitswettbewerb, im Gegensatz zu Butterick 5951 mit vier Schnittteilen oder dem Burda-Wasserfallkleid mit drei Schnitteilen. Es ist kein Zufall, dass Jacken und Mäntelschnitte bisher nicht zu Lemmingen geworden sind: den Robson-Mantel von Sewaholic finden bestimmt viele toll, wirklich nachnähen werden ihn nur wenige.
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Das Oberteil ist mit dünnem Baumwollstoff gefüttert, das Rockteil mit Futtertaft |
Nicht ganz unwichtig sind sicher auch die Vernetzung und die Präsentation: Je besser das entdeckende Blog vernetzt ist, je schöner und den Mund wässrig machender die Fotos, desto schneller nimmt der Lemming an Fahrt auf. Aber es bleibt immer auch ein unerklärlicher Rest: Der Schnitt muss einen Nerv treffen, die Phantasie in Gang setzen, eine Lücke des imaginären Kopfkleiderschrankes ausfüllen.
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Den Reißverschluss habe ich sichtbar außen aufgenäht |
Was haben diese Überlegungen mit dem Kleid auf den Bildern zu tun? Bei dem Kleid handelt es sich um
Elisalex von
by hand London, dem Lemmingschnitt des vergangenen Jahres in Großbritannien. Ein britischer Superlemming sozusagen, der in Deutschland aber nur als kleine, unbedeutende Wühlmaus angekommen ist. Interessant, oder? Da geht so ein Schnitt auf der Insel durch alle Blogs und verbreitet sich bis nach Australien, und bei uns gibt es ein paar schöne Umsetzungen von
Dodo,
Yvonet und
Bunte Kleider, einige Versuche mit nicht so zufriedenstellenden Ergebnissen, und damit verschwindet der Schnitt in der Versenkung. Kein Lemming-Hype weit und breit.
Woran liegt das wohl? Konnte die Geschichte von Charlotte, Elisalex und Victoria, den drei Gründerinnen von
by hand London bei uns aufgrund der Sprachbarriere nicht so recht zünden? Oder fehlt den deutschen Nähbloggerinnen der Modemut, um sich für die hüftbetonte Silhouette des Elisalex-Kleides zu begeistern? Ist der Kopfkleiderschrank auf den Britischen Inseln anders bestückt als unserer, bunter und verwegener?
Ich denke häufig, dass deutsche Nähbloggerinnen im großen und ganzen recht konservativ und brav nähen (ich auch!), wenn man sich im Vergleich britische Blogs wie
Cyberdaze anschaut, die sich bei Voguepatterns immer die avantgardistischsten Schnitte aussucht. Oder
Dolly Clackett mit ihrer Vorliebe für ungewöhnliche Musterstoffe, oder
Lladybird mit den wechselnden Haarfarben. Näht sich die deutsche Nähbloggerin lieber etwas Solides für alle Lebenslagen, während die britische Nähbloggerin ihre verrückten Klamottenträume verwirklicht?
Ein einfarbiges Elisalex ist nicht verrückt, nur sollte frau ihren Frieden mit ihrer unteren Körperhälfte gemacht haben, dafür sieht der Oberkörper durch den Tulpenrock sehr schmal aus. Ich habe das Elisalex-Kleid schon im Dezember aus einer Art dunkelblau-schwarzem Cord von
Philea genäht und es einige Male getragen, unter anderem an meinem Geburtstag und mit böhmischen Strass zu Silvester, und ich mag es: ich mag die Schnittform, die übertrieben breite Hüfte, ich mag, dass es nicht auf die konventionelle Art ein hübsches Kleid ist - aber das Elisalex ist für mich kein Alltagskleid.
Bei Alltagskleidern vergesse ich nach kurzer Zeit, was ich gerade trage, sie funktionieren einfach, und ich kann mich mit anderen Dingen beschäftigen. Das Kleid wird weggeblendet, während ich lebe. Beim Elisalex-Kleid merke ich die ganze Zeit, was ich trage, der große Rückenausschnitt schummelt sich immer ins Bewusstsein, der enge Saum ist hinderlich, wenn ich mal auf einen Stuhl steigen muss oder mich gemütlich aufs Sofa schmeißen will. Aber: das Gefühl des Besonderen kann bei besonderen Gelegenheiten eben genau richtig sein. Ich denke, ich habe mir mit Elisalex ein wunderbares, nerdig angehauchtes Anlasskleid genäht und damit eine Lücke in meinem Kopfkleiderschrank geschlossen, von der ich vorher noch nicht einmal wusste, dass sie da ist und die ich mit noch so viel bewusster Überlegung nicht hätte schließen können. Und das verbuche ich als großen Erfolg.
Die Fakten zum Schnitt:
Schnittmuster: Elisalex von
by hand London. Der Schnitt ist auf Seidenpapier aufgedruckt, die englische Nähanleitung mit gezeichneten Bildern steht in einem separaten kleinen Heft, beides steckt in einem schick bedruckten Pappschuber. Der Schnitt kam mir im Prinzip technisch ausgereift vor, an den Prinzessnähten im Oberteil gibt es pro Naht zwei Passzeichen, an der Armkugel drei Passzeichen. Die Schnittteile enthalten bereits
1,5 cm Nahtzugabe.
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Rockteil kürzen (Klick vergrlößert das Bild) |
Änderungen: Ein großes Problem des Schnittes ist, dass das Schnittmuster nicht dem Kleid entspricht, das man auf den meisten Fotos des Modells sieht,
worüber Siebenhundertsachen im Februar schon ausführlich geschrieben hatte. Nach Schnittmuster ist der Rock etwa wadenlang,
bei Dodo sieht man die Originallänge. Um den Rock auf Knielänge zu kürzen und gleichzeitig die Tulpenform zu erhalten, faltete ich bei den Schnittteilen an fünf Stellen regelmäßig verteilt etwa 3 cm weg. Yvonet schrieb
hier und
hier über ihre Änderungen.
Ich verlängerte außerdem das Oberteil um 2 cm, bei mir eine häufige Änderung. Die Taille soll beim Elisalex-Kleid ein bißchen über der natürlichen Taille sitzen.
Nähanleitung: Das Anleitungsheft sieht zwar auf den ersten Blick sehr ausführlich aus, einige wichtige Details sind jedoch gut versteckt oder werden nicht erklärt.
Ich rätselte herum, warum auf der Verpackung ein 65 cm-
Reißverschluss angegeben ist, aber in der Anleitung auf einmal ein teilbarer Reißverschluss verwendet wird, der in den Zeichnungen vom Ausschnitt bis zum Saum des Kleides reicht. Im
Sew-along auf der Webseite wird es klar: Setzt man in die hintere Mitte einen teilbaren Reißverschluss ein, kann man
Elisalex als Wendekleid nähen. Aber natürlich reicht ein 65-cm-Reißverschluss nicht bis zum Kleidsaum, es sei denn man kürzt das Kleid so weit, dass es nur knapp über den Po reicht.
Das ist alles in der Anleitung also nicht sonderlich durchdacht. Am Kleid gemessen würde ich sagen: plant einen 40-cm-Reißer ein, wenn ihr das Kleid mit dem originalen tiefen Rückenausschnitt näht, wenn ihr den Rückenausschnitt höher setzt, sollte der Reißverschluss entsprechend länger sein. Ich nähte den Reißverschluss von außen sichtbar auf, weil mir der Kontrast des Metallreißers zum Stoff an dem ansonsten schlichten Kleid gut gefiel.
Das Oberteil ist wie in der Anleitung angegeben mit dünnem Baumwollstoff gefüttert. Ein
Futter für das Rockteil ist nicht vorgesehen, ich fütterte den Rock aber mit glitschigem Futtertaft, den ich gemeinsam mit dem Oberstoff verarbeitete. Die Kellerfalten sind also gemeinsam in Oberstoff und Futter eingelegt, die dabei wie eine Lage behandelt wurden.
Noch ein Wort zur
Stoffwahl: ich glaube ein fester Stoff mit ordentlich Stand ist beim
Elisalex-Nähen der wichtigste Punkt, wenn man sich für den Tulpenrock entscheidet. Aus weicherem Stoff funktioniert die Rockform nicht, dann fallen die Falten unansehnlich zusammen. Im Netz gibt es aber viele (britische) Beispiele, bei denen das Oberteil mit einer anderen Rockform, zum Beispiel einem halben Teller kombiniert wurde - dann geht auch ein fließender Stoff.