Sonntag, 24. Februar 2019

Gezeichnete Mode: Ausstellung in den Reinbeckhallen Oberschöneweide


Mich gibt es noch! Der Januar und vor allem der Februar sind ohne Zweifel die härtesten Monate in Berlin, und nach drei Wochen Herumgeschnupfe und Erkältungs-Pingpong habe ich erst seit kurzer Zeit das Gefühl, dass es wieder aufwärts geht. Im Hintergrund ist aber einiges passiert, bald gibt es von neuen Büchern bei Schnatmyer&Derham zu berichten!


Noch in einem etwas vernebelten Halb-Erkältungszustand besuchte ich vor zwei Wochen eine sehr interessante Ausstellung von Modegrafik aus der DDR - "Zwischen Schein und Sein" - in den Reinbeckhallen in Oberschöneweide, die ich sehr empfehlen kann. Die Reinbeckhallen sind ein Teil des riesigen Industriekomplexes zwischen Wilhelminenhofstraße und dem Spreeufer, ehemals Standort des Kabelwerks Oberspree und der AEG. Vor einigen Jahren wurde in der Gegend die Hochschule für Technik und Wirtschaft angesiedelt, in den alten Hallen gibt es kleine Firmen und immer noch viele freie Flächen. Ein ganzer Komplex am Ende der Reinbeckstraße wird seit 2017 für Ausstellungen, Veranstaltungen und für Ateliers genutzt.


Die Modegrafik-Ausstellung fand ich sehr gut zusammengestellt und erläutert. Die Blätter, vor allem Zeichnungen, stammen von den Mitarbeiterinnen des Modeinstututs der DDR, das zu seinen Anfängen Kollektionen für die Bekleidungskombinate entwickelte. Später, als sich gezeigt hatte, dass die Entwürfe aus Gründen der Rationalisierung bei der Produktion und aus Mangel an passenden Materialien, wenn überhaupt nur vollkommen verwässert in den Handel gelangten, bekam das Modeinstitut einen direkteren Draht zu einigen Bekleidungsfabriken, die die Entwürfe für den Verkauf in Exquisit-Läden umsetzten. Dafür wurden schließlich sogar im Westen Stoffe und andere Materialien eingekauft.

Modellzeichnungen mit Stoffproben von Karin Klinger

An den Zeichungen kann man zum Teil noch erkennen, wie mit ihnen gearbeitet wurde: Angeheftete Stoffschnipsel, von anderen Zeichnungen durchgepauste und eingeklebte Elemente, handschriftliche Bemerkungen zu Steppnähten, Schnittführung und Material.

Zeichnungen von Ursula Fehlig

Andere Zeichnungen geben eher eine Atmosphäre, ein Lebensgefühl wieder. Das mag ich so an Modezeichnungen: Dass nicht wie bei einem Katalogfoto jedes Detail ausformuliert ist, sondern dass die Vorstellung immer ihren Teil dazutun und das Gezeichnete ergänzen muss.Bei Modezeichnungen setze ich meine Vorstellungskraft sehr gerne in Bewegung - während dieser Vorgang bei arg "künstlerischen" Modefotos, auf denen man das Kleidungsstück kaum erkennen kann, für mich meistens nicht funktioniert.

Zeichnung von Dorothea Melis

Ich habe in der Ausstellung jedenfalls viele Entwürfe gesehen, die ich sehr gerne anziehen würde, und es hat mich besonders gefreut, in der Ausstellung über die Designerinnen des Modeinstituts auch etwas mehr zu erfahren. Die Ausstellung läuft noch bis zum 31. März, geöffnet ist immer Donnerstag bis Sonntag, am Freitag ist der Eintritt frei.

Auch die Umgebung der Hallen ist einen Spaziergang wert (wenn es nicht zu kalt ist). Eine durchgängige Uferpromenade führt jetzt bis zum Peter-Behrens-Bau (einst Verwaltung und Produktion der Neuen Automobil-Gesellschaft, 1917, jetzt Hochschule), in dessen fünften Stock es eine Cafeteria mit einem tollen Blick über Schöneweide gibt (Turmcafé Oberschöneweide). Ein paar Schritte weiter am Ufer ist in einem alten Hafenkran das Kranhauscafé. So weit bin ich bei meinen Ausstellungsbesuch in verschnupftem Zustand aber gar nicht gekommen . Da das Café Schöneweile direkt bei der Ausstellungshalle voll war, verschlug es Hern Nahtzugabe und mich in die Kranbar ein paar Schritte weiter (an dem Spazierweg, der zum Kaisersteg führt), und das war ein Volltreffer - sehr guter Kaffee, und so einen locker-cremigen Käsekuchen habe ich selten gegessen. Im Sommer, wenn man draußen sitzen kann, muss es dort traumhaft sein. Also auf nach Oberschöneweide!

Zwischen Schein und Sein
Modegrafik in der DDR 1960-1989

Reinbeckhallen
Reinbeckstr. 17, 12459 Berlin (Oberschöneweide)

noch bis 31. März 2019
Do+Fr 16-20.00 Uhr, Sa+So 11-20.00 Uhr
Eintritt 5€/3€ ermäßigt, freitags Eintritt frei

Montag, 7. Januar 2019

Mein neues Hobby: Stoffe stapeln

Jahresanfang, Zeit für Bestandsaufnahmen und Pläne. Ich habe 2018 wirklich wenig genäht. Nach einem Oberteil und einem Kleid bei der Annäherung 2018 (das Kleid habe ich hier immer noch nicht richtig gezeigt, es hat sich aber als ideales Buchmesse-Kleid erwiesen), kam erstmal nicht mehr viel - außer Vorhänge für die neue Wohnung, das endlich fertiggestellte Anna-Kleid aus Batikstoff, ein Spätsommerkleid, ein paar nicht verbloggte schnelle T-Shirts und Pyjamas, schließlich wurde die Flaum-Strickjacke fertig und erst vor kurzem ein Pullover und ein Jeansrock. Die Renovierung der Wohnung zog sich ziemlich hin und der sehr heiße Sommer und bot auch kein ideales Nähwetter.

Der Zwang, für den Umzug wirklich alle Stoffkisten zu öffnen und durchzusortieren (und dabei ein paar fast vergessene Stofflagerplätze zu entdecken, ähem), führte wenigstens dazu, dass ich nur sehr wenig Stoff gekauft habe - insgesamt kamen 2018 ca. 17 Meter dazu, mehr war es wirklich nicht.

Und statt zu nähen machte ich vor allem Pläne, zog Stoffe mit einem konkreten Plan im Kopf aus dem Lager, suchte den Schnitt dazu, stapelte Stoff und Schnitt auf, noch einen Stoff und noch einen Schnitt darüber, und noch einen und noch einen - um das meiste davon, wenn die passende Jahreszeit für das Vorhaben vorbei war, unangeschnitten wieder wegzuräumen.

Das Paradoxe daran ist, ich habe zum ersten Mal seit 2007 wieder ein eigenes Arbeits- und Nähzimmer. Zwar nur mit einem großen Tisch, so dass Laptop und Nähmaschine jeweils wieder weggeräumt werden müssen - aber es ist trotzdem ein großer Fortschritt. Gleichzeitig arbeite ich wieder von zuhause aus, ohne Schreibtisch in einem externen Büro, und da ich im Prinzip sehr gerne arbeite, fällt es mir oft schwer, "Arbeit" und "Freizeit" vernüftig zu trennen und vor allem abends einen Abschluss zu finden. Wer zuhause arbeitet, wird das kennen: Man sucht tagsüber mal eben zwischendurch eine Maschine Wäsche zusammen und hängt sie anschließend auf, aber noch viel häufiger schreibt man abends eben noch schnell eine Mail, während man das Nudelwasser beaufsichtigt. Bis jetzt leide ich nicht besonders unter dieser etwas ausufernden Arbeit, aber da ich weiß, dass das auf lange Sicht wirklich zum Problem werden kann, und weil das außerdem dazu führt, dass ich zu Dingen wie Nähen, die mir auch Spaß machen, nicht mehr komme, habe ich für 2019 nur den einen Vorsatz, Arbeit und Freizeit wieder richtig zu trennen und mir vor allem richtige, echte Freizeit und das heißt vor allem Nähzeit einzuplanen. Denn Stoffe stapeln und wieder umsortieren ist ja nicht mein Hobby. Außerdem ist mein Kleiderschrank durch das Aussortieren vor dem Umzug nur noch locker gefüllt, und ich könnte wirklich einige Dinge brauchen. 


Daher zeige ich hier einfach mal meinen aktuellen Stoffstapel und die dazugehörigen Pläne. Der aktuelle Stapel besteht aus dunkelgrünem, sehr dickem Cord aus Italien (ein Coupon von 1,20 m), der zu einer Jacke 104 aus Burdastyle 11/2018 werden soll, eingefasst mit dunkelrotem Schrägband. Meine Schnittwahl erstaunt mich mittlerweile etwas, aber da das Projekt schon angefangen ist, nähe ich die Jacke jetzt auch, es wird sich ja herausstellen, ob ich sie dann häufig anziehe.


Der zweite grüne Stoff ist Baumwolltwill vom Markt, daraus soll der Hosenrock "Milly" aus La Maison Victor 1/2016 werden.


Der Streifenstoff ist eine locker gewebte, etwas kreppige Viskose, ebenfalls ein Coupon aus Italien, das soll ein Oberteil werden, der Schnitt steht noch nicht fest. Bei der Suche nach Wintermantel-Schnitten begegnete mir bei Burda ein Schnitt für ein Webstoffsirt mit Jerseybündchen, vielleicht wird es das. Oder ich probiere endlich einen Schnitt aus La Mia Boutique aus, der italienischen Nähzeitschrift, die es eine kurze Zeit auch in sehr schlechter deutscher Übersetzung gab. Ich halte euch auf dem laufenden.




Mittwoch, 5. Dezember 2018

Plötzlich Lust auf Pullover


Im Laufe der letzten Jahre habe ich eine Menge Strickjacken gestrickt (wohl dokumentiert in diesem Blog), und keinen einzigen Pullover. In den letzten Monaten passierte etwas Unglaubliches: Ich bekam Lust, Pullover zu tragen. Fragt mich nicht, warum, und was da genau passiert ist - mir ist es auch ein Rätsel. Die Veränderung ging schleichend vor sich. Die strickjackentypische Knopfleiste erschien mir eines Tages als zu viel Gewurschtel, insbesondere wenn ein anderes Kleidungsstück mit Knopfleiste unter der Strickjacke getragen wird. Pullover erschienen mir auf einmal als idealer Partner zu Röcken, nachdem ich jahrelang keinen einzigen Gedanken daran verschwendet hatte.


In den letzten Wochen setzte ich die Idee in die Tat um, nachdem ich einige Pulloveranleitungen von Ravelry und aus den paar Strickheften, die ich besitze, gelesen und verworfen hatte. Ich probierte einige Zopfmuster aus, strickte ein Maschenprobe aus Drops Lima in rubinrot, von dem ich mal auf Verdacht 500 Gramm gekauft hatte, und begann den Pullover von unten.


Wie immer bei meiner Strickschlampen-Methode habe ich keine genauen Aufzeichnungen über das Strickstück, ich habe nach dem Bündchen seitlich etwas zugenommen und von unten bis auf Achselhöhe gestrickt - Dank Nadelstärke 5 ging das ziemlich schnell. Die Ärmel haben nach dem Bündchen erst ein paar verteilte Zunahmen, die nach etwa einer Handbreit wieder abgenommen werden.


Als die Ärmel lang genug waren, nahm ich bis auf jeweils sechs Maschen unter den Armen alles auf eine lange Rundnadel und nahm in jeder zweiten Runde rechts und links einer gedachten Raglanlinie jeweils eine Masche ab, bis mir der Ausschnitt passend erschien. Im Rückenteil habe ich dann mit verkürzten Reihen noch zweimal hin- und hergestrickt, damit der Ausschnitt hinten höher wird als vorne und schließlich ein Bündchen angestrickt.


Der Pullover passt - trotz meines wirklich fahrlässigen und geradezu skandalösen Mangels an Planung - wirklich unverschämt gut, und wie ich es mir dachte ist er ein guter Partner zu Röcken geworden.

Hier trage ich ihn mit einem ebenfalls im Herbst entstandenen Jeansrock nach dem Schnitt 21035, den ich zuerst hier bei Karin dreikah gesehen hatte und schon lange nähen wollte. Ich habe den Schnitt etwa 5 cm verlängert.

Tja, und was soll ich sagen - ich finde das Konzept Pullover so schön warm und kuschelig, dass ich schon über einen weiteren Pullover nachdenke (allerdings auch über eine neue schwarze Strickjacke - über den Sommer ist meine alte den Motten zum Opfer gefallen).

Ich gebe weiter an den MeMadeMittwoch, die allmonatliche Versammlung von Selbernäherinnen und Selbstgenähtem.

Mittwoch, 28. November 2018

Plastikfrei reisen: Ordnung im Koffer ohne Tüten (oder auch eine nachhaltige Geschenkverpackung)

Die Überschrift klingt, als ob ich beim Verreisen jemals "Ordnung im Koffer" hätte - ich weiß ja nicht, wie es bei euch ist, aber bei mir ist in der Regel jedwede Ordnung schon beim ersten Öffnen des Koffers zerstört. Nach ein paar Reisetagen wühle ich in einem verknäulten Wust von Kleidungsstücken, gerade dass ich es schaffe, frische Sachen und Getragenes in gegenüberliegende Ecken des Koffers zu knüllen. Einige Dinge (Schuhe, Shampooflaschen) werden in ebenfalls zerknüllten Platiktüten transportiert.

Schön ist das nicht, und wie viel ich wirklich aufzuholen habe merkte ich, als ich beim letzten Upcycling-Workshop in meinem Kiez mit Nachbarin C. gemeinsam nähte. Sie ist offenbar eine äußerst versierte Kofferpackerin und besitzt eine Reihe von Stoffbeuteln verschiedener Größe für verschiedene Aufbewahrungszwecke im Koffer, unter anderem packt sie Garnituren von Unterwäsche, Strümpfen, Jeans und Oberteil für einen Tag gemeinsam in einen Beutel. Diese Art des Packens habe sich vor allem für verreisende Kinder bewährt, sagte sie (und außerdem sieht es auch noch viel besser aus als Plastiküten, von denen ich mittlerweile auch noch kaum welche habe).

Solche Beutel für Ordnung im Koffer aus alten Hemden zu nähen, war C.s Idee beim Workshop, ich habe ihr dann nur geholfen, die Idee nähtechnisch umzusetzen, und das Ergebnis war so schön und praktisch und nachahmenswert, dass es hier eine Anleitung dafür gibt.  

Anleitung Koffer-Organizer


Material
Oberhemd oder Bluse, möglichst gerade geschnitten - Größe egal, auch Kinderhemden eignen sich
passendes Nähgarn

Werkzeug
Nähmaschine (+ eventuell Overlock, gehr aber auch ohne)
Schere
langes Lineal, Handmaß oder Geodreieck
Markierstift (Bleistift reicht)
Stecknadeln
evtl. Bügeleisen

1.
Falls das Hemd oder die Bluse senkrecht verlaufende Taillenabnäher hat, die Abnäher auftrennen. (Waagerechte Brustabnäher bei Blusen ignorieren). Das Hemd glattbügeln und zugeknöpft glatt hinlegen.

2.
Aus dem Hemdvorderteil ein großes Rechteck erst anzeichnen und dann durch beide Lagen ausschneiden.
Die obere Linie verläuft auf Achselhöhe, falls dort eine Brusttasche im Weg ist, die Tasche vor dem Schneiden abtrennen. Den Hemdsaum wenn nötig ebenfalls begradigen. Beim Anzeichnen und Schneiden außerdem darauf achten, dass die Schnittlinie in einigem Abstand von den Knöpfen verläuft.


3.
Die Brusttasche  eventuell an anderer Stelle auf der Hemdvorderseite aufsteppen.

4.
Das Hemdrechteck umstülpen, Innenseite nach außen und die offenen Kanten erst stecken, dann mit 1 cm Nahtzugabe von Seitennaht zu Seitennaht steppen. Die Knopfleiste wird dabei zugesteppt. Die Naht versäubern damit sich der Stoff nicht aufdröselt, entweder mit Zickzackstich an der Nähmaschine oder mit der Overlock.

5.
Den Beutel nacheinander an allen vier Ecken auseinanderziehen und so hinlegen, dass die eben genähte Naht und die Seitennaht genau aufeinander liegen, wenn nötig etwas bügeln. Entlang der Seitennaht jeweils die gleiche Strecke abmessen und senkrecht dazu eine Linie ziehen, quer über den Beutelzipfel. Hier ist die Linie immer 3 cm von der Beutelspitze entfernt und die Querlinie ist 6 cm lang. Auf der eingezeichneten Linie stecken.

6.
Auf der eingezeichneten Linie steppen, dabei die Naht am Anfang und am Ende durch Rückwärtsnähen befestigen.

7.
Den Beutel auf due rechte Seite drehen und überprüfen, ob schöne Ecken enstanden sind - wenn die Quernaht für das eigene Perfektionsbedürfnis zu schief geworden ist, nochmal trennen und neu nähen.

8.
Die abgenähten Zipfel wegschneiden, so dass eine Nahtzugabe von 1 cm stehen bleibt und die Nahtzugabe mit Zickzack versäubern, oder Zipfel wegschneiden und versäubern in einem Arbeitsgang mit der Overlock machen. Bei einer Overlocknaht am Anfang und am Ende eine Garnkette stehen lassen und die Fäden mit einer dicken Nadel in die Naht ziehen.

9.
Fertig!


Die Beutel sind durch die Knopfleiste in der Mitte sehr praktisch, gerade für kleine Wäschestücke, sie sind waschbar, haltbar - und sie sehen gut aus. Für Vielreisende bestimmt auch ein gutes Weihnachtsgeschenk, für alle anderen eine weiternutzbare Geschenkverpackung, man findet bestimmt einen Ort, wo so eine Tasche nützlich ist.

Dienstag, 30. Oktober 2018

Das war der Berliner Schick: Mode vom Hausvogteiplatz

Wusstet ihr, dass Berlin in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein Zentrum der Bekleidungsindustrie war? Dass Mode aus Berlin in alle Welt exportiert wurde? Ich muss zugeben, dass ich das erst weiß, seitdem ich einmal mehr oder weniger zufällig in der Gegend des Hausvogteiplatzes unterwegs war und das Denkmal in der Mitte des Platzes - drei geneigte Spiegel, die die umliegenden Häuser reflektieren - wahrnahm und auch, dass an den Stufen hinunter zur U-Bahn-Station lauter Firmennamen eingemeißelt sind.


Heute sind der Hausvogteiplatz und die umliegenden Straßen ein merkwürdiges, etwas steriles Niemandsland mit Bürogebäuden, der Botschaft der Mongolei, dem Justizministerium, einem Teil der Humboldt-Uni und Neubauten mit sehr, sehr teuren Eigentumswohnungen, eine tote Ecke zwischen den Touristenmassen auf dem Gendarmenmarkt und dem Verkehrsinferno auf der Leipziger Straße. Sieht man Bilder der Gegend vom Anfang des vorigen Jahrhunderts, mag man kaum glauben, dass es sich um dieselben Straßen handelt: An den Fassaden Firmenschilder dicht an dicht, in den Erdgeschossen Bekleidungsgeschäfte, auf den Straßen Lieferwagen, Straßenbahnen und je nach Jahrzehnt mehr Autos oder mehr Pferdefuhrwerke, und vor allem ein unglaubliches Gewimmel von Passanten, Lieferanten, Geschäftsleuten, Frauen und Kindern beim Einkaufsbummel. Große Kaufhäuser waren hier, aber seit Mitte des 19. Jahunderts vor allem die Konfektionäre, meistens jüdische Bekleidungsgroßhändler, die sich auf die Produktion von Kleidung "von der Stange" spezialisiert hatten. Diese Idee, fertige Kleidung in einer Reihe von standardisierten Größen günstiger als maßgeschneidert anzubieten, war eine revolutionäre Erfindung, sie machte diese Kleidung für eine größere Gruppe von Frauen überhaupt erst erschwinglich.


Die Ausstellung Brennender Stoff - Burning (t)issue, die von Studierenden der Europäischen Ethnologie der Humboldt-Uni erarbeitet wurde, zeigt derzeit in den Räumen des Justizministeriums, das zum Teil in so einer ehemaligen Textilfabrik untergebracht ist, die Geschichte dieser Konfektionäre rund um den Hausvogteiplatz. Im November wandert die Ausstellung in das Hauptgebäude der Humboldt-Uni und kann dort ohne Anmeldung besichtigt werden. Ich hatte sie mir vor zwei Wochen im Ministerium angeschaut und habe viel mitgenommen.


Mir war zum Beispiel nicht bewusst, dass ein großer Teil der Konfektion in Berlin gar nicht in Fabriken, sondern in Heimarbeit hergestellt wurde - und zwar von einem Heer von Näherinnen, die in 12-Stunden-Arbeitstagen zuhause im Akkord Blusen und Kleider nähten, bügelten, und sich natürlich auch noch um Kinder, Küche, Kirche kümmern mussten. Alte Fotografien aus dem Landesarchiv zeigen die beengten Verhältnisse, ärmliche, enge Wohnzimmer, mit Nähmaschinen und Bergen von lauter identischen fertigen und halbfertigen Kleidungsstücken, dazwischen kleine Kinder.


Die glamouröse Seite der Berliner Mode ist sogar noch besser durch Fotos dokumentiert: In den Kaufhäusern wurden schon damals ganze Erlebnislandschaften geschaffen. Das, was wir heute "Shopping" nennen, das Flanieren durch Geschäfte, das Ansehen und Anfassen der Waren, ohne den Zwang, etwas kaufen zu müssen, nahm damals in den Warenhäusern seinen Anfang. Die Influencerinnen der damaligen Zeit waren Bühnen- und Filmschauspielerinnen, Sportlerinnen und Tänzerinnen.


In den dreißiger Jahren war es dann vorbei mit der Berliner Textilindustrie: Ihre meistens jüdischen Eigentümer wurden enteignet, vertrieben und ermordet, nach dem Krieg lag das Hausvogteiviertel in Schutt und Asche. Die Ausstellung - und das sehr empfehlenswerte Begleitbuch - zeichnen hier die Einteignung einer von vielen jüdischen Firmen nach. Die Berliner Modefirmen, die es jetzt noch gibt, hatten im übrigen kein Interesse, das Ausstellungsprojekt zu unterstützen, wie eine der Ausstellungsmacherinnen erzählte, die uns begleitete. Deutlich wurde auch, dass die Geschichte der Berliner Konfektion bislang nur in den Grundzügen erforscht und allgemein recht wenig bekannt ist. Ich kann daher den Besuch der wirklich interessanten und gut gemachten Ausstellung - gestaltet wurde sie von Studierenden der Kunsthochschule Weißensee - empfehlen. Bis Ende November ist sie kostenlos und ohne Anmeldung im Hauptgebäude der Humboldt-Uni zu sehen, und auch das Begleitbuch zur Ausstellung ist sehr zu empfehlen, es ist angenehm zu lesen und enthält die meisten Fotos, die auch in der Ausstellung zu sehen sind.

https://www.brennender-stoff.info/
Ausstellung ab 3.11. in der HU, Unter den Linden 6
geöffnet Mi-Fr 16-20.00 Uhr, Sa 11-17.00 Uhr
Eintritt frei
außerdem kostenlose Führungen, dazu ist eine Anmeldung nötig  

Das Buch zur Ausstellung gibt es im Buchhandel, es liegt in der Ausstellung aus und kann außerdem bei den Führungen erworben werden.

Über die Ausstellung berichteten sehr ausführlich Maritta Tkalec von der Berliner Zeitung, Jérôme Lombard von der Jüdischen Allgemeinen und Katharina Kühn für DeutschlandfunkKultur.  

Mittwoch, 17. Oktober 2018

Viel mehr als Häkeltanten: Handarbeiten durch die Jahrhunderte in Susannes neuem Buch "Gedichte, Geschichten mit Nadel und Faden"

Susannes neues Buch ist da! Beim mittlerweile ritualisierten Warten auf den Lastwagen mit der Buchpalette konnte ich dieses Mal nicht dabei sein, weil der Liefertermin und mein Urlaub kollidierten, aber mittlerweile habe ich das neue Buch Gedichte, Geschichten mit Nadel und Faden in der Hand und kann es euch zeigen.


Susanne sammelt schon seit Jahren Erzählungen und Gedichte, in denen gehandarbeitet wird und hat die 57 schönsten und interessantesten für dieses Buch ausgewählt. Ich kenne mich in der deutschen Literatur ja einigermaßen gut aus, aber auch für mich waren die meisten Fundstücke ganz unbekannt, oder ich hatte sie nicht im Gedächtnis, weil das Handarbeiten in vielen Büchern nur ganz beiläufig beschrieben wird - wie es eben auch oft beiläufig nebenher stattfindet - oder weil mein eigener Fokus beim Lesen früher ganz woanders lag.

Erinnert sich zum Beispiel jemand daran, dass Effi Briest in der Anfangsszene von Fontanes Roman, (den warscheinlich die meisten von uns in der Schule lesen und (über-)analysieren mussten), mit ihrer Mutter an einer Stickerei für eine Altardecke arbeiten muss und dazu überhaupt keine Lust hat? Ich habe den Roman im Deutschunterricht sogar zweimal in verschiedenen Klassenstufen durchgenommen (fragt nicht), aber diese Handarbeitsszene hatte ich verdrängt.


Die Sammlung besteht aber nicht nur aus so schwerer Kost wie Fontane - sehr amüsant ist zum Beispiel, wenn Thomas Bernhard über selbstgestrickte Pullover rantet und man ahnt: Das ist nicht nur Fiktion, dahinter steht wirklich eine Erfahrung. Nicht verpassen darf man das "Huldgedicht an Singer", von dem es auf youtube auch eine Vertonung gibt. Man kann erkennen, welche Autoren sich wirklich mit Handarbeiten beschäftigt haben und die dahinterstehende Technik verstehen und daher zu schätzen wissen (Günther Grass, Rainer Maria Rilke) und welche nicht (Henrik Ibsen). Man wundert sich, dass der durchschnittliche Ehemann des 19. Jahrhunderts von strickenden Frauen offenbar höchst genervt war. 

Erschreckend wird es dann, wenn Handarbeiten in Heimarbeit unter prekären Bedingungen den Familienunterhalt sichern müssen. Die Schilderung des Arbeitsalltags in der Thüringischen Puppenindustrie um 1900 von Agnes Sapper steht dem, was wir heute aus Bangladesch kennen, in nichts nach, Kinderarbeit inklusive. Und Nesthäkchen im Ersten Weltkrieg strickt Strümpfe für den Endsieg.


Am Interesssantesten finde ich aber die vielen Texte von Autorinnen, die Susanne gefunden hat und die hier zum Teil zum ersten Mal seit langem wieder in einer zugänglichen, lesbaren Form verfügbar sind. Manche Namen kennt man vielleicht von Briefmarken oder Straßenschildern, hat aber noch nie wirklich etwas von der Autorin gelesen - Fanny Lewald zum Beispiel, die als Jugendliche durch ein gesticktes Geburtstagsgeschenk in große Bedrängnis gerät. Oder Sophie von La Roche, die so detailversessen und mit großer Begeisterung über Stoffe, Kleider und Stickereien schreibt.

Das neue Buch ist etwas größer und als "Verflixt und zugenäht" und "Am Rockzipfel", die beide weiterhin erhältlich sind

Im 19. Jahrhundert gab es überhaupt eine Menge Bestsellerautorinnen, die vom Schreiben ihre Familien ernähren konnten, das weiß heute nur kaum einer mehr. Sophie Wörrishöffer beispielsweise schrieb Abenteuerromane - meistens unter einem männlichen Namen - und verkaufte fast so viele Bücher wie Karl May, vermutlich um die 50 Millionen Stück. Viele Frauenrechtlerinnen waren gleichzeitig Schriftstellerinnen wie Hedwig Dohm und Louise Otto-Peters, die beide in der Sammlung vertreten sind.

Es gibt also viel zu entdecken auf den annähernd 200 Seiten, unter anderem auch zwölf dezent absurde Collagen von Susanne, für die sie alte Buchillustrationen neu zusammengesetzt hat. Und übrigens: SINGERS NÄHMASCHINE IST DIE BESTE, das wusste man schon 1928 in Belgien.   

Susanne Schnatmeyer (Hgg.): 
Gedichte, Geschichten mit Nadel und Faden   
192 S., 12 Illustrationen, Hardcover mit Lesebändchen
18,00 Euro

Erhältlich im Buchhandel, bei amazon und Konsorten, bei Susanne direkt und versandkostenfrei in unserem neuen Shop. In Susannes Blog Textile Geschichten gibt es ebenfalls einen Einblick in das neue Buch.

Eine Gelegenheit, die Bücher und uns direkt zu erleben (beinahe hätte ich geschrieben: anzufassen, aber einigen wir uns auf: Bücher gerne anfassen, Autorinnen nicht), gibt es in Berlin am 24. und 25. November jeweils von 10-18.00 Uhr, wir haben einen Stand auf der Buchmesse BuchBerlin für unabhängige Verlage und Selfpublisher im Mercure-Hotel MOA Berlin in Moabit (U-Bahnhof Birkenstraße). Vielleicht sehen wir uns ja?