Ich gebe ja zu, ich war anfangs skeptisch. Besonders, als es beim Anhalten der Schnitteile so aussah, als wäre die Taillenlinie wie bei jedem Fertigschnitt ein bißchen zu hoch. Das entpuppte sich aber als Irrtum: der Schnitt passt. Überall. Die ganzen Problemstellen, die ich zum Beispiel von Burda kenne – Taille zu hoch, Schultern zu breit, Armausschnitt zu weit – sitzen richtig. Eine einzige Änderung nahm ich nachträglich vor, und zwar verschmälerte ich die Taille im Rückenteil noch um zwei Zentimeter in der Mitte - das hätte man aber ohne weiteres auch so lassen können. Der Stoff ist eine relativ feste Baumwoll-Viskose-Mischung vom Markt, die leicht glänzt und dunkelblau-messingbraun changiert, so dass sowohl altmessingfarbene Knöpfe als auch dunkelblaue Zackenlitze farblich passen.
Das Schnittmuster erstellt man ja, wie schon gesagt, auf der Grundlage der eigenen Maße. Tatsächlich ist das Messen bzw. Ausmessen-lassen der aufwendigste Teil der ganzen Prozedur. 34 Körpermaße müssen ermittelt werden, das geht nur mit einem Helfer, dann ist die Sache aber überraschend schnell erledigt: wir brauchten etwa eine Viertelstunde. Beim Eintippen der Werte baut sich am Bildschirm nach und nach eine stilisierte Figur auf: Ich. Ich bin eine gestauchte Sanduhr!
Der ausgedruckte Schnitt |
Das Verändern des Schnittmusters am Rechner hilft schnell über diesen Schock hinweg, das geht nämlich sehr einfach und macht Spaß. Die Schnittgrundlage bildet ein Kleid mit sogenannter Prinzessteilung, also mit Teilungsnähten, die in Vorder- und Rückenteil von den Schultern ausgehend über Brust, Taille, Hüfte laufen und den Körper so nachmodellieren. Mit wenigen Klicks lassen sich verschiedene Optionen anwählen, und die Zeichnung des Kleides verändert sich am Bildschirm gleich mit. Es gibt fünf verschiedene Weiten – von einer Minus-Weite für Jersey über eine eng anliegende Passform, taillierte und wenig taillierte Passform, außerdem verschiedene Längen von Mini bis bodenlang mit Schleppe, mit kleinem oder großem, eckigem oder rundem oder V-Ausschnitt, mit langen Ärmeln oder mit Puffärmeln.
Beim Schnittmuster ist ein Deckblatt mit Modellzeichnung und eine Übersicht über die Seitenverteilung dabei |
Bei diesem Schritt ist Erfahrung mit dem „Lesen“ von Schnittmusterzeichnungen sehr von Vorteil. Die nackten technischen Zeichnungen geben eben nur die Grundlinien wieder, den Stoff, Knöpfe, Taschen und so weiter muss man sich denken. Ich bin es ja gewöhnt, dass mir die Burdas die Position jeder Taschenklappe vorgeben und saß zuerst ratlos vor dem Bildschirm, mein Respekt vor echten Designern wuchs ins Unermessliche. Was trägt man denn so zu Zeit? Und was will ich eigentlich nähen? Schließlich wählte ich das Kleid in Knielänge, mit taillierter Passform, großem rundem Ausschnitt, stark ausgestelltem Rockteil und langen Ärmeln, die ich am Papierschnitt in kürzere umwandeln wollte.
Zusammengeklebt und verändert |
Ausdrucken und Zusammenkleben finde ich bei Schnitten immer dezidiert unspaßig (die traumatisierenden 126 Seiten vor einem Dreivierteljahr sind noch nicht vergessen), es ging aber selbst für meine Verhältnisse schnell, und ein Farbdrucker ist meines Erachtens auch nicht nötig.
So sollte es werden: Schnittzeichnung mit den geplanten Veränderungen |
Das Schnittmuster enthält neben den üblichen Markierungen für Fadenlauf, Passzeichen, Belege, zusätzliche Linien auf Brust-, Taillen- und Hüfthöhe, nützlich als Orientierung für weitere Änderungen direkt am Schnitt. Damit vervielfachen sich die Möglichkeiten: mit anderen Ärmelformen, selbst konstruiertem Kragen, Taschen, Knopfleisten, Teilungsnähten kann das Kleid ein ganz anderes Aussehen annehmen. Wie das geht, wird zum Beispiel in dem mehr als siebzig Jahre alten Buch Modern Pattern Design von Harriet Pepin erklärt, das Andrea von Michou loves Vintage zum Herunterladen anbietet und das bei weitem das vollständigste ist, was ich in punkto Schnittveränderungen kenne.
Ich machte aus den langen Ärmeln kurze, mit einer Blende am Abschluss, bastelte in die seitlichen Vorderteile Hüftpassentaschen, auch mit Blende, fügte in der vorderen Mitte eine Knopfleiste an und legte in der Taille die Schnitteile zusammen, um einen fünf Zentimeter breiten, durchgehenden Einsatz zu erhalten. Solche Veränderungen bedeuten zwar Schneiden, Ansetzen, Kleben, wenn sich der Grundschnitt aber erst einmal als passend erwiesen hat, kann dabei aber nicht viel schiefgehen - anders als bei Passformänderungen, wenn man eigentlich nicht genau weiß, was man da tut.
Wie wäre es mit dem Kleid in taillierter Passform, ohne Ärmel, leicht ausgestellt, aus Tweed, um es im Herbst über langärmeligen T-Shirts zu tragen (eine Idee von Meike)? Das Kleid mit engem Rock, eckigem Ausschnitt und Dreiviertelärmeln (aus dem gekürzten langen Ärmel) könnte ich mir als "kleines Schwarzes" vorstellen. Näht man nur den oberen Teil, ärmellos und mit tiefem Ausschnitt aus verstärktem Stoff mit Futter, erhält man ganz eindeutig ein Dirndlmieder. Und ich überlege, wie sich der Schnitt zum Wickelkleid machen lässt – Wickelschnitte müssen nämlich richtig gut passen, sonst sind sie unbequem, und hier wittere ich meine Chance.